Kirchenschändung

Eine Erzählung

von Hermann Schulz
Kirchenschändung
 
Der Junge im Alter von elf Jahren bewohnte mit seiner Familie ein altes Haus unmittelbar neben einer katholischen Kirche. Er war evangelisch, hörte aber heimlich und gerne die sehnsuchtsvollen Marienlieder, die durch die geöffneten Fenster der Kirche drangen.
 
Auf den Beginn der Maiandacht wartend, saß er an einem warmen Nachmittag auf der Fensterbank seines Zimmers im ersten Stock und ließ die nackten Beine nach draußen baumeln.
In der Kirche war völlige Ruhe; durch ein Fenster sah er die rötlichen Spiegelungen des Ewigen Lichtes. Während er seinen ungeordneten Gedanken über den Sinn dieses Zauberlichtes nachhing, von dem in seinen Kreisen nur abfällig gesprochen wurde, bemerkte er, daß es plötzlich erlosch. Erst hielt er es für eine Täuschung.
 
Wenig später sah er, daß sich die schwere Tür der Kirche einen Spaltbreit öffnete und ein Mädchen mit Zöpfen seinen Kopf herausstreckte, rechts und links blickte - und dann ihn bemerkte. Sie blieb starr stehen. Dann lief sie davon und war schnell seinem Blick entschwunden.
 
Am darauffolgenden Tag, der Junge hatte die Begebenheit schon halb vergessen, wurde in der Schule der Unterricht unterbrochen. Der Priester eben jener Kirche kam in die Klasse, es sei eine unerhörte Schändung des Kirchenraumes zu verzeichnen, jemand habe, kaum auszusprechen, das Weihwasser verschüttet, die Blumen zertreten, das Ewige Licht gelöscht und anderen Unfug angerichtet.
Ob einer etwas wisse, fragten Kaplan und Schulrektor.
Schweigen in der Klasse.
Der Junge wurde aufgerufen: "Du wohnst neben der Kirche, ist dir gestern etwas aufgefallen, hast du jemanden gesehen?" Er stand da mit rotem Gesicht, schüttelte den Kopf.
"Komm nach vorne!" Der Junge gehorchte.
"Sieh mich an! Du wohnst doch gleich daneben. Ist dir gestern nichts aufgefallen, wo warst du denn am Nachmittag?"
Er redete sich heraus, er habe im Garten arbeiten müssen, das könne seine Mutter bezeugen. Er habe nichts gesehen.
 
Das Mädchen hieß Regina. Seit diesem Vorfall blieb sie über viele Jahre, solange er in jenem Ort wohnte, wo immer er auch war und wo sie es ermöglichen konnte, in seiner Nähe. Wenn er zur Schule ging, ging sie auf der anderen Straßenseite in gleicher Höhe. Bei Klassenausflügen war sie an seiner Seite und im Kino saß sie einige Reihen hinter ihm. Im Tanzkursus wählte sie ihn bei Damenwahl, nach einer durchtanzten Nacht in der einzigen Bar der Kleinstadt, der Kuckucksbar, versuchte sie, ihn zu verführen. Aber sie sprachen nie ein Wort über den Vorfall.



© Hermann Schulz - Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2007