Begegnung der anderen Art

Aufgezeichnet

von Hermann Schulz
Begegnung der anderen Art
 
Wer jemals im tiefen Winter eine halbe Nacht auf dem Flughafen von Kiew verbringen mußte, der wird die schmerzhafte Kälte nie mehr vergessen. Irgendwann gibt man es auf, an die lauwarmen Heizkörper zu fassen, die nichts ausrichten können, oder mit verschränkten Armen auf und ab zu laufen. Man beginnt sich zu fragen, ob die Nacht jemals zu Ende gehen oder ob sich jemals wieder ein Flugzeug dorthin verirren wird.
 
Als mir genau das im Februar dieses Jahres passierte, und ich mich mürrisch auf den einzigen freien Sitzplatz einer Bank zwängte, ging zu allem Überfluß das Licht aus. Ich klemmte, eingedenk der Warnungen meiner unkrainischen Freunde, meine Tasche zwischen die Knie und versuchte mich an die einzige jetzt noch gesicherte Wahrheit zu erinnern, daß nämlich jede Nacht einmal enden muß.
Da sprach mich eine Frau an, offensichtlich eine Deutsche, die, ohne daß ich sie bemerkt hätte, neben mir saß, und bat mich um Feuer. Im Licht der kleinen Flamme, die bald verlosch, konnte ich nur undeutlich die Konturen eines strengen, sehr deutschen Gesichtes erkennen. Sie schien rote Haare zu haben. Wir rauchten schweigend, bis sie ein Gespräch begann.
 
Im Dunkeln verliert das Gespräch schnell die Oberflächlichkeit einer flüchtigen Begegnung. Nach ein paar Bemerkungen über die ungewöhnliche Kälte und über das Pech, daß die Maschine nach Moskau nicht kam, erzählten wir aus unseren Leben, von Reisen, von der Arbeit, von den Familienverhältnissen. Als sie meinen Beruf erfuhr, lachte sie leise und sprach davon, daß in wenigen Wochen ihre Examensarbeit als Buch erscheinen würde, eine Arbeit über den Schriftsteller Elias Canetti, von dem ich, wie ich gestehen mußte, keine Zeile gelesen hatte, was ich nie mehr bedauert hatte als in diesen Augenblick.
Schließlich wurden die Reisenden nach Moskau aufgerufen, ich sah sie mit anderen nach vorn drängen und verlor sie aus den Augen. Im Morgengrauen kamen wir in Moskau an, ich traf sie, obwohl ich mir Mühe gab, an der Paßkontrolle nicht wieder; vielleicht war sie schon abgefertigt und auf dem Wege in die Stadt.
 
Vier Tage später, schon wieder in meinem Wuppertaler Büro, rief mich eine Journalistin an und bat um einen Termin für ein Interview, es solle ein Portrait werden. Ich war in Hektik und verstand weder ihren Namen genau noch den den Blattes, für das sie schrieb. Am darauffolgenden Tag kam sie in mein Büro und gab mir ihre Karte. Sie hieß Diana Canetti. Natürlich fragte ich sie nach ihrer Verwandtschaftsbeziehung zum dem Dichter, aber sie schüttelte den Kopf: "Unsere Familien stammen aus dem gleichen Dorf in Bulgarien, aber wir sind nicht verwandt. Ich bin in Istanbul aufgewachsen und ihm nur einmal kurz begegnet." Dann erzählte sie vom Schicksal der sephardischen Juden, von denen alle Canettis abstammen und ihren Wegen ins Exil zu Zeiten der Reconquista in Spanien.
 
Das Portrait erschien wenig später in einer westdeutschen Tageszeitung.
 
Einige Monate nach Erscheinen des Artikels, schon im August dieses Jahres, erreichte mich abends der Anruf einer Frau. Ich stellte, da ich gerade die Nachrichten sah, den Fernseher leiser. Ihr Name sagte mir nichts. Sie rufe aus Gießen an, entschuldigte sich wegen der Störung - aber sie habe durch eine Reihe von Zufällen, wie sie das Leben manchmal bereithalte, die Ausgabe einer Tageszeitung, die sie sonst nicht lese, in die Hand bekommen und dort einen Artikel von Diana Canetti über mich gefunden und sich an ein Gespräch auf dem Flughafen von Kiew erinnert. Ob ich an jenem Datum in Kiew am Flughafen gewesen sei. Das sei doch, wenn es denn tatsächlich zuträfe, ein so ungewöhnlicher Zufall, daß sie meine Nummer bei der Auskunft erfragt habe, ich möge ihr die Belästigung nicht verübeln. Ich betonte, ich sei, im Gegenteil, hocherfreut.
 
Während mein unvorbereitetes Gedächtnis den Weg zurück nach Kiew und jenem ungewöhnlichen Nachtgespräch suchte, erschien auf dem stummen Bildschirm das Foto eines grauhaarigen Mannes: Elias Canetti, mit der schwarzen Unterzeile "Canetti gestorben". Einige Atemzüge lang fühlte mich mich in einer anderen Gegenwart und Wirklichkeit. Dann unterbrach ich sie und sagte ihr die Nachricht, - sie habe doch ein Buch über den Dichter in Vorbereitung. Ja, es sei erschienen, sie würde mir gern ein Exemplar zuschicken, wenn ich Interesse hätte. Über den Tod Canettis sei sie schon informiert.

Ich bat sie um das Buch und um ein Wiedersehen.



© Hermann Schulz - Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2007