Ende der Vorstellung

Eine Erzählung vom Herzklopfen

von Hermann Schulz
Ende der Vorstellung
 
Das Theater ist zu Ende, die Zuschauer drängen sich vor der Garderobe. Der Mann richtet es so ein, daß keiner seiner Freunde, die mit in der Vorstellung gewesen sind, ihn in ein Gespräch verwickeln kann. Er will ungestört und wie zufällig am Ausgang mit der Frau zusammentreffen. Das ist nicht ganz einfach zu bewerkstelligen, denn viele kennen sie und alle Welt wollte ein paar Worte mit ihr wechseln. Trotzdem und wie durch ein Wunder gelingt es, und zu seiner Erleichterung erfährt er, daß sie tatsächlich noch keine Verabredung für die Rückfahrt zum Kongreß-Hotel getroffen hat und gern seine Einladung annimmt.
 
Er will nichts sehnlicher, als diese zehn Minuten Fahrzeit mit ihr allein sein. Er ist nicht sicher, was er ihr sagen will, aber das macht ihm kein Kopfzerbrechen. Er wird schon die richtigen Worte finden.
 
Ihre Persönlichkeit überwältigt ihn. Er ist seit ihrer Ankunft so sehr in ihrem Bann, daß er fast jenes kleine Signal übersehen hätte, das sie ihm wie nebenbei geschickt hat. Es war nicht wirklich ein Hinweis, der zu irgendwelchen Hoffnungen berechtigen würde, eher ein unschuldiges, kleines liebenswürdiges Kompliment, geschickt verpackt in einer geheimnisvollen Unverbindlichkeit, die wohl Distanz garantieren sollte. Aber er hat die Worte gehört und sie sind in seinem Herzen gewachsen, weil er es so gewollt hat.
 
Nein, er hat ganz und gar nicht vor, ihr eine Liebeserklärung zu machen. Er ist schließlich kein Trottel und Tollpatsch und weiß, wer sie ist. Er hofft auf eine Gelegenheit, ihr mit geschickten Worten und angemessener Zurückhaltung sagen zu können, daß sie eine wunderbare Frau ist und daß er an diesem Tag nur sie geliebt hat.
 
Wie immer in angespannten Lebenssituationen, wenn er sich keinen Fehler erlauben will, zwingt er sich zu Ruhe und Gelassenheit. Es wird alles gut werden, lächelt er vor sich hin.
 
Es regnet in Strömen, seit sie im Auto sitzen, die Scheibenwischer bewältigen kaum die Wassermengen und es stürmt, daß die Herbstblätter Tänze im Scheinwerferlicht aufführen. Er schaltet und fährt und beginnt eine unverfängliche Konversation. Über den Theaterabend, über dies und jenes, über das Hotel, in dem sie untergebracht sind. Nebensächlichkeiten. Er wird schon noch zur Sache kommen.
 
In Gedanken an sein Vorhaben hat er sich den Weg vom Hotel zum Theater genau eingeprägt und fährt nun ruhig und zielstrebig. Ampeln, Abzweigungen, Brücken, Eckkneipen, die er sich als Wegweiser gemerkt hat. Der schwere Wagen liegt ruhig. Er fährt nicht sehr schnell (nur jetzt nicht den Angeber herauskehren, nicht bei so einer Klassefrau!), erzählt von Büchern, Reisen und Begegnungen. Bis sie fragt: "Sind wir hier eigentlich noch richtig?"
 
Sie sind falsch gefahren. Er kehrt um, sucht bekannte Anhaltspunkte, beruhigt sie, obwohl sie keine Unruhe zeigt.
 
"Ich war oft genug da," sagt er, "das haben wir gleich..." Er würde gern ihr Gesicht sehen, ob sie lächelt, aber es regnet und er muß auf die Straße achten - nur jetzt keinen Unfall! - und jetzt endlich den verdammten Weg finden! - Wird sie ihn verdächtigen, absichtlich falsch gefahren zu sein, um länger mit ihr im Auto sein zu können? - Er macht eine entsprechende Bemerkung, die witzig klingen soll. Aber sie geht nicht darauf ein. Er kommt ins Schwitzen und spürt unangenehm, daß sein Hemd feucht wird. Er hat den Eindruck, immer mehr in die Irre zu fahren, immer weniger seiner Orientierung trauen zu können.
 
Seine Verzagtheit füllt ihn aus. Wie kann er jetzt über Empfindungen sprechen, während er den verdammten Weg nicht findet, in einer dämlichen, fremden Stadt, bei idiotischem, strömenden Regen, und ohne die Chance zu einer winzigen Pause, um sich über sein Vorhaben einen klaren Gedanken zu machen?
 
Nach einer halben Stunde erreichen sie das Hotel. Er kann nur noch daran denken, daß sie genervt sein muß. Sie bedankt sich für das Mitnehmen. In ihrer Miene glaubt er ein ironisches Lächeln zu entdecken. Er ist sich dessen nicht ganz sicher, aber was spielt das noch für eine Rolle. Es ist das Ende von etwas, das nie wirklich begonnen hat und nicht beginnen sollte und das es doch gegeben hat.


 
© Hermann Schulz - Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2007