Helene

Eine kleine Liebesgeschichte

von Karl Otto Mühl

Karl Otto Mühl - Foto © Anita Duerdoth

Helene

 Eine kleine Liebesgeschichte

Ein Mädchen mit Namen Helena Salvadori erschien eines Tages in der Kanzlei, begleitet vom verschmitzt lächelnden Seeber. „Unsere neue Praktikantin,“ stellte der sie vor.

Das Mädchen lächelte freundlich und sehr gleichmütig. Gärtner fielen ihre bergquell-hellen, glitzernden Augen auf. Sie schien nie unsicher, obwohl sie doch noch in der Ausbildung war und vieles nicht wußte. Wenn sie etwas wissen wollte, bemühten sich meistens gleich zwei Kollegen darum, sie aufzuklären. Gärtner wußte nicht, wie sie dies erreichte, aber es fiel ihm auf. Sie hieß Helene.

Ein wenig krachten auch wegen ihr bei den Männern im Amt im Wettbewerb die Geweihe ineinander.

Sie wurde oft eingeladen. Gärtner hörte es aus ihren Antworten heraus, wenn sie manchmal Anrufe empfing. Manchmal warteten junge Leute nach Feierabend auf sie, und sie ging zusammen mit zweien oder dreien irgendwo etwas  trinken. Einmal fragte sie auch den jungen Rechtsanwalt Gärtner, ob er sich nicht anschließen wolle, und diesmal ging er mit. Sie saßen in einer Eckwirtschaft, waren lustig, und die jungen Männer versuchten sie auszufragen.

Sie war überhaupt nicht verschlossen. Ihr Freund hieß Friedrich, berichtete sie, er studierte Chemie, und sie waren so gut wie verlobt. Sie hatte oft die Stelle gewechselt, deshalb hatte ihr Freund Friedrich ihr geraten, endlich einen sicheren Beruf zu suchen, in dem die Laufbahn vorgezeichnet war. Darum wollte sie jetzt Angestellte werden.

Ihre Augen schienen klein zu sein, aber sie glitzerten wie Brillanten zwischen den starken Backenknochen. Sie sprach leise und drückte sich eigenwillig aus. „Man muß seinen Körper kennen, dann wird man gesund. Der Körper weiß das alles.“ Ihr glaubte man, daß sie damit etwas Kluges meinte. Sie war ja ausgebildete Krankenschwester, aber wichtiger schien ihr der Sport zu sein. Sie hatte sich irgend einen Meister-Gürtel beim Judo erworben, schwarz oder blau, die Farbe vergaß Gärtner, aber ihre muskulösen Arme fielen ihm auf.

Nach einer Stunde machten sich alle auf den Heimweg, der eine hier hin, der andere dort hin, zurück blieben Helene und Gärtner. Er bot ihr an, sie heim zu begleiten, sie fand einen kleinen Umweg, der angeblich schöner war, und der führte durch ein kleines Wäldchen.

Sie hatte nichts Herausforderndes gesagt, er hatte nichts Ungewöhnliches gesagt, aber plötzlich ahnte er aus ihrem Blick, daß er sie hier zwischen den Bäumen küssen durfte. Es war nicht der erste Kuß in seinem Leben, aber dieser hier war so saugend und stark, ihre Arme, mit denen sie ihn umschlang, so kraftvoll, ihr Körper preßte sich so unmißverständlich gegen ihn, daß er aufhörte, irgend etwas zu denken. Es war Abend, aber noch taghell, und zerrissene, hellgraue Himmelsfetzen hingen zwischen den Bäumen, die jetzt befriedigt vor sich hinbrummten, während die beiden eingehakt zwischen den gutmütigen Riesen den Waldhang hinunter tapsten.

Danach sagte sie, er könne über Nacht bei ihr bleiben, und sie fuhren mit seinem Auto zu ihrer elterlichen Wohnung. Die war in einem Mietshaus an der Hauptstraße im Randbezirk, und es war niemand zu Hause. Ihr Vater, ein Werkmeister, war abwesend. Was mit der Mutter war, konnte Gärtner nicht erfahren. Sie war nicht erwähnt worden.

Die fremde Haut elektrisierte ihn. Nichts, meinte er in diesem Augenblick, nichts war  gewaltiger als diese seligen Berührungen, die er erlebte.

Sie lagen zusammen in Helenes breitem Bett. Es war eine neue Erfahrung für ihn, mit einer starken Frau zu schlafen. Vorher bemerkte er beim Auskleiden etwas, das sie ihm auf einen erstaunten Blick hin bestätigte. Sie trug nichts weiter unter dem Rock, nie, sagte sie. Das sei doch nur lästig und zudem unnötig. Und auch spannend, weil es niemand wußte außer ihr. Diese Tatsache tauchte tagsüber noch oft erregend in seinen Gedanken auf.

Er wußte nicht, ob sie mit ihm zufrieden war; er wußte nur, daß er sich berauscht und willenlos fühlte. Sie schliefen bald ein, aber am Morgen klopfte ihr Vater gegen die Türe, um sie zu wecken. Gärtner versteckte sich unter der Bettdecke, bevor der Vater den Kopf durch den Türspalt steckte.

Ihr Vater verabschiedete sich kurz. Eine Stunde später saßen Helene und Gärtner wieder Tür an Tür in der Kanzlei. Alles war auf einmal anders als am Vortag.

Danach hatte sie einige Tage lang keine Zeit für ihn. Sie sagte nicht warum. Vielleicht war sie wieder mit ihrem Friedrich zusammen. An einem der folgenden Tage bestellte sie Gärtner dann doch zum Parkplatz.

Das sagte sie ihm morgens, als er bei ihr durchs  Vorzimmer kam. Er war angespannt, mußte aber rasch zur Geschäftsstelle des Amtsgerichts, um vor Terminverfall eine Akte abzugeben . Mit der Post würde es zu lange dauern.

Sie sprach mit leiser Stimme, sah ihn fest an: „Ich wollte dir etwas sagen.“

Sie  könnten zusammen bleiben – wenn sie sich innerhalb der nächsten drei Tage verloben würden. Er solle darüber nachdenken und ihr Bescheid sagen.

So hatte noch nie eine Frau mit ihm gesprochen.

Gleich darauf war sie verschwunden, verschwunden in einem grauen Nachmittag, verschwunden wie ein Lichtblitz zwischen den Wolken. Eigentlich war sie nichts als ein atmender Mensch unter Milliarden Menschen, aber sie war einer, der ihn in Schrecken versetzen konnte.

Das Leben konnte ernst machen. Vorher war er meistens im Warmen gewesen, aber plötzlich fühlte es sich an wie kalter Stahl.

Helenes Worte hatten ihn in Entsetzen versetzt. Sein Körper schien ihm erkaltet zu sein, erfroren sogar. Er wußte es nicht, aber er hatte Angst.

Die Nacht verging wie eine Nacht im Wüstenkrieg, ein Himmel voller Lichtflecke und stählernem Geschrei. Er fühlte sich ohnmächtig, jemand hatte Macht über ihn und verlangte, das zu tun, was er wollte – und dieser Jemand war eine Frau. Freude gab es nicht in dieser neuen Welt, in die sie ihn hinein stoßen wollte, die Welt  klammernder Liebe. Erstorben war die Verlockung unerhörter Lüste, die Helene zu versprechen schien.

Im Traum ging er durch prasselnden Regen, suchte nach seinem Regenumhang, rief seinem Vater zu, er möge ihn bringen, aber der fand ihn nicht. Ihm fiel ein, noch im Traum fiel ihm ein, daß er ihn selbst in den Keller gehängt hatte. Er selbst war es, der ihn holen mußte. Das verstand er mitten im Traum.

Er kam nicht dazu, sich zu entscheiden oder zu äußern. Schon nach einer Woche verließ sie die Kanzlei, und niemand erfuhr, wohin sie gegangen war.

Es war, als sei eine Tür zugeschlagen worden, eine Tür, in deren Öffnung er goldenen Lichtschein und tanzende Paare wahrnahm, Musik und Lärm drangen heraus. Und nun war es plötzlich still.

Nach einiger Zeit hörte Gärtner von seinem Kollegen Seeber, ein Bekannter habe sie in Hamburg getroffen und ihm berichtet. Sie habe gesagt, sie lebe jetzt in Marseille und sei mit einem reichen Marokkaner verheiratet.

Seeber blickte ihn voll an. Er schien etwas zu ahnen. Gärtner sah zum Fenster hinaus. Es war bewölkt und diesig draußen, anscheinend zitterte aber kein Regen in der grauen Luft.

Sein Freund Windgassen, der wußte, daß Gärtner sich verliebt hatte, stellte nie lästige Fragen. Er selbst sprach über Frauen immer in einer Art kindlichem Erstaunen und kindlicher Neugier. Gärtner dachte, etwas wird anders, wenn man mit einer geschlafen hat. Andererseits wird es aber wieder selbstverständlich, wenn es über längere Zeit geschieht.

Gärtner erinnerte sich noch lange daran, daß ihm gleich nach Helenes Weggang übel wurde. Das Übelsein blieb tagelang, er dachte, es war zuerst wegen der  Angst und danach wegen des Verlustes von etwas Unwiederbringlichem..

Am liebsten wäre Gärtner allem entrückt worden, sowohl dem leidenschaftlichen Liebesleben, dem bequemen Miteinander als auch einer immer möglichen, schrecklichen Trennung. Sein innerer Blick sah ihn selbst manchmal im goldgelben Mönchsgewand, unter zaghaftem, asiatischen Sonnenlicht, bei dünnem, frommen Gebimmel.

© Karl Otto Mühl – Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2007