Souvenirs

...und der Nutzen des Latinum

von Hanns Dieter Hüsch

© André Poloczek - Archiv Musenblätter
Souvenirs
(...und der Nutzen des Latinum)

Sagen Sie mal, haben Sie sich auch Souvenirs aus den Ferien mitgebracht? Also früher, sage ich Ihnen, da waren wir gar nicht zu halten. Da haben wir noch zu Hause die Ferien kräftig weitergefeiert mit all den Souvenirs um uns herum. Ich kann mich noch an die Holzkuh aus Beatenberg erinnern. Wie schwer es uns gefallen ist, die nach zehn Jahren endlich auszusortieren. Aber einmal muß es ja sein. Sonst wachsen einem die Sachen über den Kopf. Die Muscheln und die Trachtenpuppen und so weiter. Sicher, all die Sachen haben natürlich ihre Geschichte. Heute bringen wir nur noch was Vergängliches mit, also Eßwaren, so Schinken und Wein aus der Gegend, also alles, was keinen Platz wegnimmt und nach ein paar Tagen weg ist. Das sind schöne Erinnerungen. Aber sonst, der Koffer ist doch auf der Rückfahrt sowieso immer schwerer als auf der  Hinfahrt, weil ich noch ein paar Sandalen haben mußte und meine Frau sich so einmalige Pumps, wie heißen die Dinger noch, Rocko-Barocko, gekauft hat. Aber sonst - nix! Was ich neuerdings mache, obwohl das auch Blödsinn ist, aber was ist heutzutage kein Blödsinn, wollen wir doch mal ehrlich sein, unter uns gesagt, ich bewahre mir Kleinigkeiten eine Zeitlang auf. Sagen wir mal, zwei Zahnradbahnkarten oder Seilbahnfahrkarten mit Datum drauf. Da weiß ich dann immer ganz genau, das war an dem Dienstag gegen Abend, wo wir mit der Seilbahn von Montecatini Therme nach Montecatini Alto raufgefahren sind und haben auf dem Perron gestanden und von da aus fast die ganze Toskana fotografiert. Das behalte ich dann ganz genau. Und abends haben wir in Montecatini Alto leckere Crostini gegessen. Das ist eine toskanische Spezialität. Lecker sage ich Ihnen, so was von lecker, aber das hängt alles mit den zwei Seilbahnfahrkarten zusammen. Die Biglietti. Ich kann ja nicht viel Italienisch, ich kann buon giorno, Guten Tag, und basta cosí, das heißt: Jetzt reicht’s. Also beim Essen. Und die Flugscheine bewahre ich auch alle auf. Ich schmeiße die spätestens nach zwei Jahren weg. Aber jetzt sind sie noch so schön nah, die Erinnerungen. Und dann fällt mir auch immer ein, daß ich bereits auf dem Hinflug denke, daß schon bald der Tag kommt, an dem ich zurückfliege. Das ist natürlich dummer Quatsch, sage ich mir dann. Jetzt wird erst mal hingeflogen. Aber es geht ja alles so schnell vorbei, sage ich Ihnen, und gerade deswegen sind diese zwei Seilbahnfahrkarten so wahnsinnig wertvoll. Und ich behalte sie auch noch ein bißchen. Wie lange weiß ich noch nicht, so vierzehn Tage vielleicht, die nehmen ja keinen Platz weg,  und man kann sie überall mit hinnehmen und auf Verlangen vorzeigen, wenn es drauf ankommt. Also das habe ich mir nun mal so angewöhnt, daß wenn ich ein Fremdwort nicht weiß, ich entweder zu Hause im Lexikon nachgucke, oder sofort mein Gegenüber frage: »Was heißt das?« Da gebe ich mir gar keine Blöße. Nix. Auch wenn mich der andere für dumm und dämlich hält, das ist mir völlig wurscht. Erstens kann man doch nicht alles wissen und zweitens, Bildung und Bildung sind sowieso zwei Paar Stiefel. Gucken Sie mal, ich habe damals auf dem Gymnasium neun Jahre Latein gehabt, gut, kann ja nicht schaden, wenn man mal nach Italien fährt oder wegen der Logik. Eine Blume, so wie Rosana Lupa mixta, das habe ich einfach mal erfunden, das heißt genau Gemischte Wolfsrose, kommt nur in Sibirien vor. Bei all diesen Namen in den Zoologischen Gärten kann man sich mit Latein schon ein bißchen helfen. Cave Canem, Hüte dich vor dem Hund, und so. Ich habe schon oft gedacht, wie gut, daß du doch Latein gehabt hast, auch in der Musik zum Beispiel, wie Ritardando, das heißt die zögernde Rita, meist am Schluß von den Musikstücken. Aber die Errungenschaften in der Wissenschaft, die verstehe ein anderer, da verstehe ich so gut wie nichts. Da waren auch die neun Jahre Latein für die Katz, und neulich hat sogar ein Präsident der Ärztekammer gesagt: »Nicht vor dem Doktor kuschen und den Mund halten«, sondern so lange fragen, bis man alles verstanden hat. Aber machen Sie das mal. Da sitzen sie noch nachts um 24 Uhr im Wartezimmer, obwohl es ja richtig ist nachzufragen. Mein Vater hat immer gesagt, als ich noch in der Schule war: »Wenn du was nicht verstanden hast, dann mußt du den Lehrer fragen.« Aber das hat man sich doch gar nicht getraut, und das ist bei den Ärzten genauso. Viele Patienten wissen oft gar nicht, was sie haben, weil sie, wenn sie fragen, mit einem Lateinisch-Chinesisch überschüttet werden. Und da tritt sofort ein kleiner Ulcus Bulbus Duodeni in Erscheinung, vielleicht auch eine Toxoplasmose abdominal oder cerebral, vielleicht auch eine Zoonose, ist ja egal. Der kleine ängstliche Mensch jedenfalls sitzt oder liegt vor dem großen Onkel Arzt und weiß gar nicht, wie ihm geschieht und traut sich nicht, ganz einfach zu sagen: »Was heißt das, was ist das?« Der Doktor würd’s ihm schon sagen, aber, wie wir alle gelernt haben, er will zuerst gefragt werden. Ganz früher waren doch der Herr Pfarrer und der Herr Doktor und der Herr Lehrer im Dorf die Heiligen Drei Könige, und alle lagen vor denen auf dem Boden. Und was der Arzt sagte, war wie das Neue Testament, auch wenn man nichts verstand oder gerade weil man nichts verstand, und je mehr man nichts verstand, desto größer war die Ehrfurcht vor den Dreien. Fragen ist die erste Bürgerpflicht. Jawohl! Solange bis der Onkel Doktor mit seinem Latein am Ende ist und ein klares, gepflegtes, aber gemütvolles Deutsch spricht.



© Chris Rasche-Hüsch
Veröffentlichung aus "Es kommt immer was dazwischen" in den Musenblättern mit freundlicher Genehmigung