Abgründe und Traumbilder

6. Wuppertaler Sinfoniekonzert mit Schostakowitsch & Co.

von Daniel Diekhans
Abgründe und Traumbilder
 
Die Moderne tanzt:
6. Wuppertaler Sinfoniekonzert
                                             mit Schostakowitsch & Co.
 
Nichts ist bekanntlich so alt wie die Zeitung von gestern. Konzertplakate veralten manchmal genauso schnell. Während die Plakate noch die junge Vilde Frang als Solistin des 6. Wuppertaler Sinfoniekonzerts ankündigten, ging schon die schlechte Nachricht um, die norwegische Geigerin müsse leider wegen Krankheit ihren Auftritt mit Dimitrij Schostakowitschs 1. Violinkonzert absagen. Glücklicherweise war schon ein passender Ersatzmann engagiert, nämlich der junge Russe Sasha Rozhdestvensky, der erst im letzten Jahr in einem gemeinsamen Projekt mit seinem Vater, dem Dirigenten Gennady Rozhdestvensky, das Violinkonzert neu aufgenommen hatte. Rozhdestvensky jr. machte sich am Freitag in Paris auf den Weg. Gestern Vormittag stand er zusammen mit den Wuppertaler Sinfonikern unter Leitung von Chefdirigent Toshiyuki Kamioka auf der Bühne der Historischen Stadthalle.
 
Triumph über den Stechschritt
 
Neben Schostakowitsch stand ein weiterer russischer Meister auf dem Programm – Igor Strawinsky. Dessen 1946 uraufgeführte „Sinfonie in drei Sätzen“ eröffnete das 6. Sinfoniekonzert. Anders als Schostakowitsch blieb Strawinsky sein Leben lang auf Distanz zur klassisch-romantischen Tradition und ihren Formen. So hat auch die „Sinfonie in drei Sätzen“ mit thematisch-motivischer Arbeit wenig zu tun. Stattdessen herrscht episodische Reihung vor. Nach Aussage des Komponisten wurde das Werk, das in den Jahren 1942 bis 1945 entstand, durch Filmbilder von im Stechschritt marschierenden deutschen Soldaten inspiriert. In der Tat erklingt zu Beginn des 1. Satzes eine Marschouvertüre, die vom Orchester freilich schnell fallengelassen und „demontiert“ wird. Dirigent Kamioka tanzt mit vollem Körpereinsatz vor seinem Orchester, was besonders gut zum 2. Satz paßt, in dem Klavier und Harfe mit – oder vielmehr gegen – die Bläser konzertieren. Mit sichtlichem Vergnügen treibt Kamioka seine Musiker in den Schlußsatz, in dem Strawinskys Polyrhythmik endgültig über den bedrohlich stampfenden Marsch des 1. Satzes triumphiert. Wenn Strawinsky jemals – trotz gegenteiliger Beteuerungen – politische Musik geschrieben hat, dann mit dieser unsinfonischen Sinfonie.
 
Schmerzhafte Intensität
 
Nach Strawinskys entfesselten Tänzen kehrt mit Schostakowitschs Violinkonzert Ruhe ein. Dirigent Kamioka steht mit beiden Beinen fest auf dem Boden, und die Töne, die Sasha Rozhdestvensky seiner Geige entlockt, sind ein anrührend trauriger Gesang. Doch die Ruhe ist trügerisch. Denn in Schostakowitschs Violinkonzert wechseln die Stimmungen radikal von Satz zu Satz. Dem „Nocturne“ folgt ein „Scherzo“, das es in sich hat. Das Tempo zieht mächtig an, Zirkusmusik erklingt und die grimmigen Scherze gehen auf Kosten des Komponisten, spielen doch die Variationen über d-es-c-h auf seine Initialen an. Das Konzert steuert mit der Passacaglia seinem Höhepunkt entgegen. Von den Streichern begleitet setzt Rozhdestvensky Griffwechsel und Glissandi als Ausdrucksmittel ein und baut eine Spannung auf, der sich der Zuhörer nicht entziehen kann. Das Orchester verstummt schließlich und macht den Weg frei für die unbegleitete Kadenz, die Rozhdestvensky als schmerzhaft intensive Trauermusik ausdeutet. Ohne Übergang folgt den großen Gefühlen die „Burlesca“. Vor dem Hintergrund der Zirkusmusik mit Xylophon und großem Tamtam ist die reiche Grifftechnik hier kein Ausdrucksmittel mehr, sondern erscheint als sinnentleertes Kunststück. Der Künstler macht sich endgültig zum Clown. Kein Wunder, daß der Sowjetbürger Schostakowitsch diese bitter-resignative Musik für acht Jahre unter Verschluß hielt und erst 1955, nach Stalins Tod, veröffentlichte.
Großer Applaus für Sasha Rozhdestvensky, der sich vor der Pause mit einer Bach-Partita beim Publikum bedankt.
 
Traumbilder
 
Nach soviel Abgründigkeit schlägt der zweite Teil des Konzerts leichtere Töne an. Maurice Ravels „Rapsodie espagnole“ zeigt ein Traumbild, das sich der Komponist seit seiner Kindheit von der Heimat seiner baskischen Mutter machte. Deutlich ist diese Traumatmosphäre im „Prélude à la nuit“ zu spüren – zarte Streicherklänge klingen wie aus weiter Ferne. In den folgenden drei Sätzen sorgen Tamburine und Kastagnetten für spanisches Flair. Im Finalsatz beginnt, sichtlich vergnügt, auch der Dirigent wieder seinen Tanz vorm Orchester, das seine ganze Farbpalette aufbietet, bis die Musik auf dem orgiastischen Höhepunkt abrupt abbricht.
Auch Ravels „La Valse“ beginnt wie ein Traum, doch hat dieser Traum ein böses Erwachen. Zu Beginn ein beschwingter Konzertwalzer à la Johann Strauß, gerät die unschuldige Melodie nach und nach aus dem Takt. Vorbei die Zeiten, als der Kongreß den Walzer tanzte. Der Einsatz von Tamburin und Kastagnetten erinnert an die soeben gehörte „Rapsodie“ – und wie diese endet auch „La Valse“ in einem dissonanten Klangwirrwarr.
So geht nach gut zwei Stunden dieser Streifzug durch die russische und französische Moderne zu Ende. Stehende Ovationen für ein beschwingt aufspielendes Orchester, einen hervorragenden Solisten und einen tanzenden Dirigenten.
 
Wiederholung heute
 
Heute Montag, 20 Uhr, wird das Konzert wiederholt. Eine Einführung in die Werke gibt um 19 Uhr Prof. Dr. Lutz-Werner Hesse.
Zum Trost für alle, die es auch heute nicht in die Stadthalle schaffen werden: WDR 3 sendet das Konzert live ab 20.05 Uhr in der Reihe „Städtekonzerte NRW“.
 
Weitere Informationen unter:  www.sinfonieorchester-wuppertal.de