Martiros Sarjan - Armeniens bedeutendster Künstler des 20. Jahrhunderts

Ein Museums- und Atelierbesuch in Erivan

von Rainer K. Wick

Sarjan-Denkmal in Erivan - Foto © Rainer K. Wick

Martiros Sarjan - Armeniens bedeutendster Künstler
des 20. Jahrhunderts

Ein Museums- und Atelierbesuch
in Erivan
 
Am 24. April erinnerten die Musenblätter an den Beginn des Genozids an den osmanischen Armeniern im Jahr 1915, der von der offiziellen Türkei immer noch hartnäckig geleugnet wird. Die Erinnerung an das damalige Leid der armenischen Zivilbevölkerung lastet bis heute als historische Hypothek auf dem tief traumatisierten Land, das sich als kaukasischer Binnenstaat – umringt von Georgien, Aiserbaidschan, dem Iran und der Türkei – in einer geopolitisch schwierigen Lage befindet. Wer durch Erivan (Jerewan), die Hauptstadt Armeniens, schlendert, spürt allerdings kaum etwas von den Schatten der Vergangenheit und dem gegenwärtigen, zum Teil spannungsreichen Verhältnis zu den Nachbarländern. Passiert man das repräsentative Opernhaus, stößt man auf einen Bildermarkt, der unter freiem Himmel stattfindet – von „Kunstmarkt“ zu sprechen, wäre für die meist harmlosen, oft auch unsäglich kitschigen Bilder, die hier feilgeboten werden, zweifellos zu viel der Ehre. Dominiert wird dieser Bildermarkt von einer großen Sitzfigur aus Marmor, die in ihrem pathetischen Habitus eher ins 19. als in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts zu gehören scheint. Sie zeigt mit energischen Gesichtszügen, genialischer Mähne und dem entschlossenen Gestus des Tatmenschen Martiros Sarjan, den bedeutendsten modernen Maler des Landes. Und folgt man einige hundert Meter einem der breiten Boulevards der armenischen Hauptstadt, steht man auch schon vor dem Eingang des Martiros Sarjan Museums, das noch zu Lebzeiten des Künstlers als Um- und Erweiterungsbau seines Privathauses entstand und in dem der Maler bis zuletzt lebte und arbeitete.
Das Mißverhältnis zwischen mir als dem einzigen Besucher und dem zahlreich anwesenden, überaus freundlichen, aber nur ausnahmsweise einer Fremdsprache mächtigen Aufsichtspersonal hätte nicht größer sein können. Erneut bestätigt sich der Eindruck, daß die Arbeitswelt auch im postsozialistischen Armenien, das 1991 mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion unabhängig wurde, nach dem Muster einstiger Ostblock-Praktiken nicht unbedingt an Effizienzkriterien zu messen ist. Doch das nur am Rande.

Die Räume des Museums bieten einen repräsentativen Querschnitt durch sieben Jahrzehnte intensivster künstlerischer Arbeit, und das große, hallenartige Atelier, in dem nach dem Tod des Künstlers alles so belassen wurde, erzeugt den Eindruck, als sei der Meister unmittelbar gegenwärtig. An den Wänden des hellen Raumes hängen dicht gedrängt meist kleinere Formate – Porträts,

Foto © Rainer K. Wick
Landschaftsbilder, Stilleben –, auf der Staffelei steht eine starkfarbige armenische Landschaft, auf einem Stuhl liegt griffbereit der blaue Malkittel, ein kleiner runder Beistelltisch dient als Ablage für Pinsel und zwei Paletten, in den Regalen findet sich ein Teil der Bibliothek. So lebenserfüllt dieser Ort für den Besucher auch erscheinen mag, sind doch fast vier Jahrzehnte vergangen, seitdem Sarjan die Stätte seines langjährigen Wirkens zum letzen Mal betreten hat. Hoch geschätzt, offiziell anerkannt und mit zahlreichen Titeln und Preisen ausgezeichnet, verstarb er im Mai 1972 im biblischen Alter von zweiundneunzig Jahren. Geboren wurde er im Februar 1880 als Sohn einer armenischen Familie im südrussischen Neu-Nachitschewan unweit von Rostow am Don. 1897 begann er in Moskau ein Kunststudium, das er 1903 abschloß. Anfänglich dem europäischen Symbolismus nahestehend, entwickelte er schon im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts einen starkfarbigen, flächenbetonten, expressiven Malstil, der zu seinem Markenzeichen wurde und an dem er – mit gewissen Modifikationen – zeitlebens festhielt. Daß Sarjan schon früh zum inneren Kreis der russischen Avantgarde gehörte, ist dem für die Moderne richtungsweisenden Almanach „Der Blaue Reiter“, 1912 herausgegeben von Wassily Kandinsky und Franz Marc, zu entnehmen. In dem Artikel „Die ‚Wilden’ Rußlands“ von David Burljuk wird Sarjan in einem Atemzug mit Larionow, Maschkoff, Gontscharowa und den im „Ausland“ (sprich Deutschland) lebenden Kandinsky, Jawlensky und Werefkin genannt – Künstlern, die „gleich den großen französischen Meistern (z.B. Cézanne, van Gogh, Picasso, Derain, Le Fauconnier, teilweise Matisse und Rousseau) neue Prinzipien des Schönen, eine neue Schönheitsdefinition in ihren Werken offenbart“ haben.

Die Zeit zwischen 1905 und 1910 war in der Tat eine Epoche, in der „die russischen Kunstströmungen im engen Zusammenhang mit den Bewegungen in den anderen europäischen Kunstzentren“ standen (Camilla Gray) und mithin im Reich des Zaren eine kosmopolitische Basis für die Entwicklung einer eigenen Moderne existierte. Einen großen Anteil an der Popularisierung der neuesten Kunst des Westens in Rußland hatten zwei herausragende Kunstsammler, nämlich Schtschukin und Morosow. Insbesondere die Sammlung Schtschukins bot den russischen Künstlern einen Einblick in die moderne französische Malerei vom Impressionismus bis hin zum Fauvismus und Kubismus. Sie umfaßte im Jahr 1914 mehr als zweihundert Werke der französischen Impressionisten und Nach-Impressionisten und jeweils über fünfzig Arbeiten von Matisse und Picasso, darunter exemplarische Werke aus Matisses Fauve-Periode und Picassos letzter Phase des analytischen Kubismus.

Abend im Garten, 1903 - Foto © Rainer K. Wick
Zwar hat Sarjan betont, daß ihn die „Bekanntschaft mit den Franzosen beflügelt“ habe, und zu Matisse scheint er eine besondere geistige Nähe gespürt zu haben, doch ist ein farbintensives und spontan gemaltes Bild wie „Abend im Garten“ so etwas wie ein Fauvismus avant la lettre, entstand es doch schon 1903, also zwei Jahre bevor die „Fauves“ im Pariser Herbstsalon des Jahres 1905 Furore machten. Von eminenter Bedeutung für die Entwicklung des Œuvres von Sarjan war die Volkskunst, mit der sich der Künstler auf langen Reisen nach Istanbul (1910), Ägypten (1911), Nordwestarmenien (1912), Persien (1913) und Südarmenien (1914) regelmäßig konfrontiert sah. So tauchen in seinen Gemälden ab 1910/11 neben ägyptischen Masken häufig Motive auf, die dem bäuerlichen Lebenskreis entstammen. Diese Bilder sind Ausdruck seiner Heimatliebe und seiner lebenslangen Verehrung einer Kultur, die ihm – ähnlich wie anderen Künstlern seiner Generation – unverbraucht bzw. unverfälscht und insofern als Bezugspunkt für eine Erneuerung der Kunst als besonders tauglich erschien.

Als 1915 der Völkermord an den in der Türkei lebenden Armeniern begann, reiste Martiros Sarjan nach Etschmiadsin unweit Erivans (Sitz des Katholikos, des höchsten Würdenträgers der Armenischen Apostolischen Kirche), um sich an Hilfsmaßnahmen für die vor den Massakern der sog. Jungtürken geflohenen Landsleute aus Westarmenien zu beteiligen. 1921 ließ er sich dauerhaft in Eriwan nieder, inzwischen – nach der Oktoberrevolution und dem Ersten Weltkrieg – Hauptstadt von Sowjetarmenien. In Berlin nahm er 1922 an der legendären  „Ersten Russischen Ausstellung“ teil, die die sowjetische Avantgarde in Deutschland bekannt machte. Ab 1924 war der Künstler mehrfach auf der Biennale in Venedig vertreten. 1928 hatte er eine Einzelausstellung in Paris; tragischerweise wurden die hier gezeigten Arbeiten während des Rücktransports durch einen Schiffsbrand vernichtet. Es folgten europaweit zahllose Einzelausstellungen und Ausstellungsbeteiligungen sowie hohe Ehrungen, etwa die Verleihung des Titels „Volkskünstler der UdSSR“ oder „Held der sozialistischen Arbeit“. Das ist umso erstaunlicher, als sich Sarjan nie der Doktrin des Sozialistischen Realismus mit ihren peinlichen Platitüden angepaßt und jeder parteipolitisch kommandierten Kunstauffassung, wie sie vor allem in der Stalinära gang und gäbe war, getrotzt hat.


Aragaz, 1925 - Foto © Rainer K. Wick

Natürlich ist die Kunst Sarjans nicht die eines abstrakten oder gegenstandslosen Künstlers, sondern sie bleibt immer an eine äußere Realität gebunden. Diese wird jedoch nie platt abgebildet oder ideologisch überhöht, sondern künstlerisch umgeformt. Wesentliches Werkzeug dieser ästhetischen Transformation ist bei Sarjan die Farbe. Dazu der Künstler: „Das wichtigste in der Malerei ist die Farbgebung, die Komposition von Farben.“ Und: „Die Farbe ist alles, ein wirkliches Wunder, die Farbe muß singen, sie muß das im Menschen liegende Wissen vom Wesen des Lebens zum Ausdruck bringen.“ Nie verwendet er die Farbe naturalistisch, sondern fast immer expressiv gesteigert, und das bedeutet, als autonomes Gestaltungsmittel; er spricht in diesem Zusammenhang

Diesiger Herbsttag, 1928 - Foto © Rainer K. Wick
auch von der „Möglichkeit zur freien und ungezwungenen Handhabung der Farbe“. Gleichzeitig verzichtet er auf jede kleinteilige Wiedergabe von Einzelheiten und bevorzugt es, die Formen mit kräftigen Pinselstrichen großzügig flächenhaft zusammenzufassen. Dies gilt vor allem für seine armenischen Landschaften, die er tektonisch gliedert und nicht selten zu monumentaler Wirkung bringt, etwa „Aragaz“ von 1925 (es handelt sich bei diesem Viertausender um den höchsten Berg der Republik Armenien) oder „Diesiger Herbsttag“ von 1928 mit dem schneebedeckten Ararat. Obwohl der Ararat heute auf türkischem Staatsgebiet liegt, ist dieser Gigant mit seinen mehr als 5000 m Höhe, an dessen Abhang Noah nach dem Abklingen der Sintflut mit seiner Arche gestrandet sein soll, der mythische Sehnsuchtsberg und das Nationalsymbol aller Armenier.

Vertieft man sich in die Landschaften des Künstlers, in denen als Motive manchmal auch die herrlichen armenischen Klosteranlagen und Kirchenbauten auftauchen, so wird man sich tatsächlich der Auffassung anschließen können, Armenien lasse sich über die Bilder Sarjans kennenlernen. Umso bedauerlicher ist es, daß die Veranstalter von Reisen in dieses sympathische Land Kaukasiens einen Besuch des Martiros Sarjan Museums in Erivan nicht auf ihrem Programm haben. Daß eine Visite allemal lohnt, zeigen überdies nicht nur die farbkräftigen, gleichsam sonnendurchglühten Landschaften, sondern auch jene Gemälde, die Sarjan als einen exquisiten Porträtisten ausweisen, dem es gelang, mit den Mitteln einer expressiven und dabei zugleich gebändigten Formen-Farbensprache das Typische seiner Modelle treffend zu erfassen.
 
3 Sarjan Straße

Ilja Ehrenburg - Foto © Rainer K. Wick
Erivan (Yerevan) 0374-10-581762
Geöffnet außer donnerstags 10.30 bis 16.00 Uhr (mittwochs bis 15.00 Uhr);
für die Aktualität dieser Angaben kann keine Gewähr übernommen werden.
 
Literatur:
Kamenski, Alexander: Martiros Sarjan. Maler und Werk, Dresden 1975
Kamenski, Alexander (Hrsg.): Martiros Sarjan. Gemälde, Aquarelle, Zeichnungen, Buchillustrationen, Bühnenbildentwürfe, Leningrad 1987
Katalog „Martiros Sarjan. 1880-1972“, hrsg. v. Institut Mathildenhöhe, Darmstadt 1986
Rasdolskaja, Vera: Martiros Sarjan 1880-1972, Bornemouth 1998

Redaktion: Frank Becker