Der Luftgeist

von Karl Otto Mühl
Der Luftgeist
 
 
Zinzius galt als Autorität in unserer Firma, und, wenn ein Simmering nach seiner Ansicht zu groß dimensioniert war oder zu weich oder gar unnötig, dann war es eben so, und der Chefingenieur begab sich für lange Abende in sein Labor, um dies nachzuprüfen. Widerspruch hätte er erst nach dem Meßergebnis und sehr zurückhaltend angemeldet, und eigentlich auch ungern. Zinzius hatte nämlich meistens Recht.
 
Zinzius war der Reisemonteur der Firma, und er rettete jede Situation bei den Kunden. Dies hatte ihm seine Sonderstellung verschafft. Er reparierte Maschinen mit Taschenmesser und Konservendosenblech mitten in der marokkanischen Wüste, war gut Freund mit Scheichs, Steppenfürsten, Rabbinern, Mullahs, russischen, asiatischen und europäischen Managern, und schwärmte nach jeder Reise von süßen kleinen Montagearbeiterinnen, Näherinnen und Zwickerinnen – eine Berufsbezeichnung aus der Schuhindustrie, wie er genüßlich betonte .
An dieser Stelle muß gesagt werden, daß Zinzius - außer einigen bekannten Wörtern - keine Fremdsprachen beherrschte, ja, auch die üblichen Behelfsbrocken wie „Please give me“ oder Ähnliches benutzte er nicht oft. Er stammte aus der Oberpfalz. Seine alte Mutter bewirtschaftete dort ein Wirtshaus. Auf Fremdsprachen war da nie Wert gelegt worden. Nein, seine Körpersprache, seine Gesten und sein Gesichtsausdruck hatten bisher genügt, um ihn in allen Ländern, die er bereiste, seine Aufgaben erfüllen zu lassen und enge Beziehungen zu Managern und Arbeiterinnen aufzubauen.
 
Das Wort „Arbeiterinnen“ ist nun gefallen, und ich muß verraten, daß Zinzius keine Freundin hatte, und auch aus früherer Zeit war nichts dergleichen bekannt. Er hatte aber keineswegs eine Vorliebe für Männer, und noch weniger läßt sich sagen, daß Mädchen für ihn nicht wichtig waren. Sie schienen sogar das Wichtigste für ihn zu sein. Er verabredete sich oft mit Kolleginnen, sprach mit Sympathie, ja mit Begeisterung von ihnen, fuhr sie mit seinem Auto, wohin sie wollten, reparierte ihre Klingelleitung daheim, brachte ihnen kleine Geschenke aus dem Ausland mit, aber nie schien eine seine Freundin zu sein oder zu werden. Er scherzte viel mit ihnen. Fast möchte ich behaupten, daß er ein scherzhaftes Leben führte. Nie habe ich ihn traurig, verschlossen oder abweisend erlebt.
Ich sah ihn über den Fabrikhof gehen, in der Hand ein Kegelrad, einen Keilriemen, eine Metallschiene oder eine Zeichnung. Wie leichtfüßig und heiter er daher ging! Nach Feierabend würde er sich in seinen Mercedes setzen und zu seiner selbstgebauten Hütte am Stadtrand fahren, eine Limonade trinken und in die Abendsonne blinzeln. Alkohol lehne er ab, sagte er. Aus Geselligkeitsgründen mal ein halbes Glas, gut, das komme vor, aber sonst, da brauche er das nicht.
Er braucht ihn nicht, und darum trinkt er auch nicht, sagt er. Wenn er in der Sowjetunion ist, dann wollen meistens zwanzig Funktionäre auf einmal von ihm eingeladen werden. Einmal waren sogar einige Minister dabei, denn die Sowjetunion wimmelt von Ministern. Und die Funktionäre und Minister blickten fassungslos, wenn er immer nur an seinem Schnapsglas nippte, und am Schluß war noch halb so viel darin wie am Anfang. So ist er nun einmal, bewundernswert konsequent.
 
Der tänzelt durch das Leben, dachte ich neidvoll, du kannst das nicht. Du denkst immer, daß du wahrscheinlich nicht gut genug bist, aber der kann alles. Du lebst allein, ein bißchen griesgrämig, ein bißchen zaghaft hoffnungsvoll, hast niemand – aber der braucht das nicht. Er ist ein Typ wie aus Luft gemacht, heiter, rein, ähnlich der Romangestalt Lary, von der ich einmal in einem Buch von Somerset Maugham, „The Razors Edge“, gelesen habe, und der war auch noch so schön fromm dabei. Dann freut man sich ja sogar auf das Jenseits.
 
Zuletzt war er fast zwei Monate lang in einer größeren Stadt in Georgien, und das kam durch eine neue Aufgabe, die man ihm zugewiesen hatte. Ein Schwerpunktlager mit Maschinen und Ersatzteilen sollte aufgebaut werden, gleichzeitig waren auch Techniker für Reparaturarbeiten auszubilden. Das Letztere war die Aufgabe von Zinzius. Daß es möglich war - und schon öfter möglich gewesen war - lag daran, daß seine Schüler meistens einige Brocken Deutsch beherrschten, und die halfen allen weiter, zusammen mit einigen englischen Fachausdrücken, die Zinzius kannte.
Er hatte herzlichen Kontakt zum Personal dieses neuen Zentrallagers. Zwar nahm er die Sprache des Landes nicht an, aber dafür lernte das Personal mehr und mehr Deutsch. Am eifrigsten waren die Mädchen vom Büro, die schöne melodische Namen trugen wie Malika, Chava, Pina und Nana. Auch Gastarbeiter aus anderen Ländern waren hier beschäftigt.
Abends saß man noch lange zusammen, meistens bei einem der neuen Kollegen. Es wurde getrunken und gegessen, und danach wurde wieder gegessen und getrunken. In Osteuropa und in Südost waren Trinken und Rauchen viel verbreiteter als bei uns, fand er; dafür liebten die Männer ihre Frauen und Mädchen sicherlich weniger, als wir es tun. Das war seine Meinung.
Die Männer waren trinkfest, die Mädchen wohlerzogen und mäßig im Essen und Trinken. Das Klima war um diese Jahreszeit mild, und mild und würzig-frisch war auch die Luft, die von den Bergen herunterwehte. Man unterhielt sich laut und fröhlich. Alle liebten Zinzius, der jeden mit warmherziger Biederkeit anredete, obwohl er sich, konsequent, wie er nun einmal war, am Zuprosten der vielen wackeren Trinker kaum beteiligte. Er selbst erlebte deutlich, wie er hier hohes Ansehen genoß, und, wie er die Anwesenden zu Lebhaftigkeit, Selbstdarstellung und Fröhlichkeit anregte. Auch die besondere Sympathie der Mädchen aus den Büros spürte Zinzius. Er hat mir öfter von diesem Aufenthalt erzählt. „Die sind ganz anders, wenn jemand kommt, der sich in der Welt umgesehen hat. Aber es sind prima Frauen, nicht solche, wie man sie bei uns findet. Die wissen einen Mann zu schätzen, sage ich euch.“.
 
Viel Spaß hatten alle bei dem Abgleichen von deutschen Wörtern mit solchen aus der ihrer Landessprache. Zinzius, und das war eine seiner Eigenheiten, lernte zwar nichts dazu, aber seine Kolleginnen und Kollegen konnten ihn von Tag zu Tag mehr mit deutschen Ausdrücken überraschen, auch wenn die aus ihrem Munde manchmal komisch klangen.
Zinzius traf bei seiner georgischen Kollegen-Runde meistens erst gegen Sieben am Abend ein. Er hatte eben viel zu tun. Dafür war der Empfang bei den jungen Kolleginnen und Kollegen umso herzlicher. Herzlichkeit und Fröhlichkeit steigerten sich mit dem fleißigen Trinken, aber Zinzius ging schließlich, kaum angefochten vom Alkohol, heim. Das verschaffte ihm noch mehr Achtung und Bewunderung, auch bei den jungen Mädchen, die alles an ihm bewunderten – seinen Rasierwasserduft, sein geduldiges, aber aufmerksames Zuhören, selbst die kleinen Accessoires wie Kleidung, Schuhe, Uhr und Börse, seine präzisen Notizen, auf die er manchmal zurückgriff, seine ruhigen, überlegten Bewegungen, und im Übrigen sah er auch anziehend aus.
Im Hotel angekommen, ging er schon früh auf sein Zimmer. Niemand konnte sich vorstellen, wie man ohne das geringste Glas Wodka einen so langen Abend verbrachte. Er war eben sehr selbstgenügsam und in sich ruhend. Anders konnte man es sich kaum vorstellen. Ab und zu sah man ihn freilich alkoholische Getränke einkaufen, Geschenke, wie er sagte, nur Geschenke.
 
Den stärksten Eindruck aber erweckte er, als er eines Abends auf dem Höhepunkt der Fröhlichkeit radebrechend verkündete: Die beiden Kollegen, die bei seinem Abschied am weitesten mit den deutschen Sprachkenntnissen fortgeschritten seien, die würde er nach Deutschland einladen und den Flug bezahlen.
„Ihr seid verdammt gut“, sagte er zu der Runde, „fast einwandfreies Deutsch, einwandfrei! Ich kann das beurteilen.“ Und dann ließ er sich zu diesem Versprechen hinreißen: „Die beiden, die am Schluß am besten Deutsch können, die lade ich für einen Monat nach Nürnberg ein. Ich bezahle auch den Flug.“
Von solch einem Angebot hatte bisher noch nie einer der dunkelhaarigen Freunde gehört. Die Männer machten sich dennoch wenig Hoffnung, daß sie Aussicht auf diese Reise hätten. Im Lernen waren die Mädchen immer eifriger und besser, von denen manche sich sicher wünschten, in Germany Arbeit oder vielleicht sogar einen Mann zu finden.
 
Und so kam es, daß Pina und Nana fliegen durften, nachdem Zinzius schon wieder daheim in Nürnberg war. Sie hatten natürlich auf ihre Visa warten müssen. Eine Familie, der er berichten konnte, besaß der fünfzigjährige Zinzius ja nicht. Darum berichtete er mir oft, wenn er an meinem Büro vorbeikam. Er sagte oft, daß er zufriedener lebte, als wenn er verheiratet gewesen wäre.
Ich verstand ihn nicht. Diese Kosten für den Flug! Dafür hätte er bei der Sparkasse regelmäßig am Prämiensparen teilnehmen können, sagte ich zu ihm. Die Mädchen würden wieder davonflattern, aber die Ersparnisse, die waren das Einzige, das einem blieb. Um Geld habe er sich noch nie Sorgen gemacht, erklärte er mir. Fast verschaffte es mir Befriedigung, zu wissen, daß er zur Strafe für dieses leichtfertige Leben nie die Ergebnisse des Prämiensparens ernten würde, gar nicht zu denken an die Komplikationen, die durch die Beziehungen zu zwei jungen Mädchen entstehen konnten. Immerhin seien sie in etwa katholisch, betonte Zinzius, aber genauer wußte er darüber nicht Bescheid.
Dann aber verriet er mir das, was den Aufwand zu rechtfertigen schien: Nana wollte ihn heiraten. Wenn sie hier war, würde er alles mit ihr arrangieren. Er zeigte mir ein Foto, und, ich muß sagen, sie sah süß darauf aus. Ich fand es bewundernswert, wie sicher er seiner Sache war.
Aber dies war nicht seine einzige überraschende Mitteilung. Sollte Nana es sich anders überlegt haben oder sein guter Eindruck von ihr sollte sich ändern, wäre immer noch Pina da, sagte er. Auch sie habe durchblicken lassen, daß sie jederzeit bereit wäre, Zinzius zu heiraten.
Dann habe es ja keine Not, sagte ich beruhigt. Er würde sehen, Heiraten lohne sich. Ein verheirateter Mann sei immer angesehener als ein unappetitlicher Junggeselle. Solchermaßen rundum abgesichert, schien seine konstante Fröhlichkeit noch zugenommen zu haben.
 
Eines Tages waren sie da, Pina und Nana. Zinzius berichtete es mir. Sie bevölkerten seine Dreizimmerwohnung und richteten sich ein. Vor allem aber waren sie ständig darauf aus, sich nützlich zu machen, zu reinigen, zu wedeln, zu wischen und zu kochen. Am reichlichsten fühlte Zinzius sich für seine Einladung belohnt, wenn er, von den beiden schönen Mädchen flankiert, mit ihnen über den Plärrer und durch die Nürnberger Altstadt spazierte. Das Verhältnis zu den beiden wurde nie durch Erdenschweres getrübt, Zinzius kam ihnen nie zu nahe. Das ganze Gebiet der körperlichen Nähe interessierte ihn anscheinend nicht, und die Mädchen vertrauten ihm da. Es war merkwürdig, aber Frauen, an deren Liebreiz er sich aber nichtsdestoweniger erfreute, schienen ihm nur Objekte der Bewunderung und der Hochachtung zu sein. Dennoch gab er sich viel Mühe, seinen Gästen Abwechslung zu bieten.
Zinzius zeigte Pina und Nana die wichtigsten Sehenswürdigkeiten Nürnbergs, die Burg, das Hans-Sachs-Haus, das Germanische Museum, das Reichsparteitagsgelände und den Dutzendteich. Er zeigte ihnen alles Sehenswerte, was seine schöne, alte Heimatstadt zu bieten hatte, aber, wieder bei ihm zu Hause angekommen, zog er sich immer sofort in sein Zimmer zurück. Er hatte einen anstrengenden Beruf, darum ging er sicher immer frühzeitig zu Bett.
 
Aber auch die beiden Mädchen hatten zunehmend seltener Zeit für ihren Gastgeber. Angeblich hatten sie Landsleute getroffen, mit denen sie viele ernsthafte Dinge zu besprechen hatten. Diese Dinge schienen so schwierig zu sein, daß sie manchmal über Nacht wegblieben.
Zinzius war wieder meistens allein. Genau wie früher. Auch nahmen ihn seine Aufgaben in der Firma - er wirkte auch in der Konstruktionsabteilung mit - anscheinend mehr und mehr in Anspruch. Er kam fast nur noch abends nach acht Uhr heim. Pina und Nana forschten angeblich auch nach späteren Arbeitsmöglichkeiten, sie mußten täglich in die Stadt, und für ihren Gastgeber, Zinzius, hatten sie kaum noch Zeit. Zinzius wurde stiller und stiller. Er kam nach Hause, grüßte, falls er sie antraf, nickte ihnen zu und verschwand in seinem Schlafzimmer. Die Mädchen sahen ihn erst am nächsten Abend wieder.
Drei Tage vor ihrem Rückflug kam er am Nachmittag schon gegen Drei heim. Er trat ein, sah die beiden Mädchen mit merkwürdig starrem Blick an, drehte sich auf der Stelle und fiel hin. Er lag regungslos auf dem Boden.
Die Mädchen schrieen entsetzt auf. Sie knieten bei ihm, versuchten ihn wach zu machen, riefen seinen Namen. Einmal öffnete er die Augen, sprach aber nicht.
 
Nun ging alles sehr schnell. Der Nachbar wurde gerufen, der alarmierte den Notdienst, der Krankenwagen kam. Inzwischen traf auch eine Cousine ein, die einen Ersatzschlüssel hatte und angeblich schriftliche Vollmachten für die Zeiten seiner Abwesenheiten besaß. Der Nachbar hatte sie informiert.
Am nächsten Tag besuchten Pina und Nana Zinzius in der Heilanstalt. Dahin war er gebracht worden. Zinzius saß in einem kahlen Zimmer an einem Tisch und sog an einem erkalteten Stumpen. „Wer sind Sie?“ fragte er die beiden, die ihm erschreckt und fassungslos gegenübersaßen.
 
Am Abend kam die Cousine zu ihnen in die Wohnung und gab ihnen Geld für die Nebenkosten beim Rückflug. Die Diagnose stehe noch nicht fest, sagte sie, man müsse abwarten, ob alles nur die Folge einer Gehirnblutung vom Sturz her sei, oder ob es Folgen seiner Alkoholsucht seien. „Er ist ja täglich betrunken, wissen Sie“, sagte sie, das ist schon seit langer Zeit so. Er versucht, es niemand merken zu lassen. Es tut mir leid, daß Sie Deutschland so kennengelernt haben. Es ist trotzdem sicher hier besser als bei Ihnen zu Hause.“
„Es ist wunderschön bei uns“, sagte Pina. „Sie sollten unser Land kennenlernen. Es war trotzdem gut, hier gewesen zu sein. Ich habe viel gelernt.“
„Ich fliege jetzt auch gern zurück“, ergänzte Nana. „Ich denke, mein Freund und ich heiraten bald. Er ist ein guter Mann.“
 
Wie alles zugegangen war und daß er Trinker war, das erfuhr ich erst bei der Beerdigung durch die Cousine. Die Sache hat mich sehr erschreckt. Ich habe mir vorgenommen, noch vorsichtiger zu leben, vor allem aber solche aufregenden Bekanntschaften aus dem Ausland zu meiden. Vielleicht haben sie Zinzius mehr aufgeregt, als er wußte.
 

 
© 2011 Karl Otto Mühl - Erstveröffentlichung in den Musenblättern
Redaktion: Frank Becker