„Die Weißen sind nicht dümmer als wir!“

Über Schuhe in Afrika - erzählt

von Hermann Schulz

Hermann Schulz - Foto © Frank Becker
„Die Weißen sind nicht dümmer als wir!“
 
Über Schuhe in Afrika
 
Von Hermann Schulz
 
 
Unser Papa ist ein großer Geschichtenerzähler. Aber er zeigt es selten. Er ist ein eher ruhiger Typ, wie ich auch. Im Gegensatz zu meiner Schwester Fatima.
Er war mit ein paar Freunden in der Hafenstadt Dar es Salaam gewesen. Ich vermutete, es war seine erste Reise so weit weg. Was er in Dar wollte, hatten meine Schwester und ich nicht mitbekommen. Wir mußten im Schulgarten arbeiten, die Hirsefelder hacken, danach auf den Parkplätzen im Naturschutzpark Saadani Abfall einsammeln.
Nach der Arbeit hatten sich Fatima, Hanifa und Hanan, unsere drei Abwehrspielerinnen im Fußballverein, auf dem Markt herum getrieben. Wenn die Händler am späten Nachmittag einpackten, gab es immer gute Gelegenheiten, zuzugreifen.
Ich hatte mich mit Yakobo am Hafen herumgetrieben. Ein toter Hai war angeschwemmt worden, deshalb hatte ich mich verspätet.
Zu Hause saßen Mama, Papa, Said und meine Schwester vor ihren leeren Tellern. Weil sie mitten im Gespräch waren, bekam ich keinen Anpfiff wegen meiner Verspätung.
„Erzähl weiter, Calvin!“, sagte Mama und zündete die Öllampe an. Strom hatten wir nur bis acht Uhr abends. Mama stellte wortlos einen vollen Teller mit Reis vor mich hin.
„Also“, begann Papa. Wenn er etwas zu erzählen hat, macht er es immer spannend.
„Wir saßen also im Bus, auf dem Weg heimwärts nach Bagamoyo. Der Bus war voll besetzt. Die Leute standen sogar im Mittelgang. Da stieg an der dritten Haltestelle hinter Dar es Salaam ein weißer Mann ein.“
„Ein weißer Mann im einem unserer Busse?“, fragte Mama ungläubig. Weil weiße Männer meist in eigenen Autos fahren und selten in unsere klapprigen Busse steigen.
„Richtig, ein ganz normaler weißer Mann,“ bestätigte Papa. „Er war schon um die Fünfzig, keiner der jungen Leute mit Rucksack und Ohrringen, wie man sie jetzt überall sieht. Er guckte sich um. Alle Plätze waren besetzt. Ein Junge von vielleicht vierzehn Jahren, zwei Reihen vor mir, rückte ein bißchen beiseite, damit der Weiße noch einen Sitzplatz hatte.“
„Hat er sich hingesetzt?“, fragte ich.
„Ja. Er hat sich hingesetzt.“
„Und dann?“
„Also: Das Geplapper im Bus war verstummt, weil alle auf ihn guckten. Ein weißer Mann in einem unserer Busse ist eine Seltenheit.“
„Eine Seltenheit. Ich weiß“, sagte Mama ungeduldig, „erzähl weiter!“
„Der Mann hatte tolle Schuhe an. So halbhohe Schuhe mit dicken Sohlen. So ganz kräftige Schuhe, versteht ihr? Man konnte sie gut sehen, weil er eine kurze Hose anhatte. So wie früher die Engländer.
Ich glaube, die Europäer nennen sie Wanderschuhe oder so. Und der Junge neben ihm, den ich nicht kannte, starrte die ganze Zeit auf die Schuhe des Weißen.“
„Er starrte also auf die Schuhe. Und dann?“ Mama drängelte. Papa guckte genervt; einen Calvin Kitumbo unterbricht man nicht, wenn er gerade eine Geschichte erzählt.
„Und dann hat der Junge dem weißen Mann etwas gesagt“, fuhr Papa ruhig fort.
„Was hat er ihm gesagt?“, wollte Mama wissen.
„Er hat gesagt: ‚Bwana! Gib mir bitte deine Schuhe!‘“
„Was?“ Wie aus einem Mund kam unser erstaunter Ausruf.
„Ja, er hat gesagt: ‚Bwana, gib mir deine Schuhe. Ich brauche sie.“
„Und was hat der Weiße geantwortet?“, wollte ich wissen.
„Nun unterbrecht mich doch nicht dauernd! Also, die Leute im Bus waren jetzt mäuschenstill. Alle wollten hören, was der Weiße sagen würde. Der schwitzte schon, aber die Weißen schwitzen ja immer. Weil sie die Hitze nicht so kennen wie wir.“
„Nun mach schon!“, drängelte Mama. Papa beugte sich jetzt über den Tisch und guckte in die Runde.
„Der weiße Mann sagte: ‚Ich kann sie dir nicht geben, mein Junge! Ich kann ja nicht barfuß durch Afrika laufen‘.
Da brüllten die Leute los, sie lachten wie verrückt. ‚Der weiße Bwana will nicht barfuß durch Afrika laufen‘, geierten sie. Sie kriegten sich gar nicht mehr ein. Dann aber war wieder Ruhe, man hörte nur den Fahrtwind und den Motor des Busses. Alle wollten wissen, wie es weiterging. Da griff der Junge nach unten, er hatte seine alten Treter, so kaputte abgelaufene Dinger, ausgezogen und hielt sie dem Weißen vor die Nase.
‚Du kriegst meine dafür. Dann bist du nicht barfuß‘, sagte er ganz ernst. Der Weiße starrte einen Moment lang auf die uralten Turnschuhe vor seinem Gesicht.
‚Die passen nicht‘, sagte er mürrisch. ‚Die sind doch viel zu klein!‘
Die Leute im Bus murmelten allgemeine Zustimmung. Jeder konnte ja auf einen Blick sehen, daß sie zu klein waren für den weißen Bwana.“
„Und wie ging es weiter?“ Mama setzte sich jetzt auch an den Tisch, denn die Geschichte war sicher noch nicht zu Ende.
„Da zog der Junge ein Taschenmesser heraus, klappte es auf und zeigte auf die Spitzen seiner Schuhe. ‚Hier könnte man sie aufschneiden, damit deine Zehen Platz genug haben‘, sagte er. ‚Dann passen sie dir, Bwana!‘
Der Weiße sagte erst einmal nichts, er starrte auf das Messer, dann auf die Schuhe des Jungen.
Da mischte sich ein alter Herr ein, so ein Mzee mit weißen Haaren. Er stand auf und sagte in die Runde:
‚Hört mal alle zu! Was der Junge da vorschlägt, geht auf keinen Fall! Ein Weißer kann unmöglich mit Schuhen durch Afrika laufen, wo die Zehen vorne herausgucken! Das weiß doch jeder!‘
Die Leute diskutierten einen Augenblick lang wild durcheinander, dann gaben sie dem alten Mann Recht. Der war aber noch nicht fertig:
‚Außerdem sieht dieser Weiße ganz so aus, als würde er auf der Straße gern mal gegen eine Blechbüchse treten.‘
‚Richtig, so sieht er aus, das erkennt man auf einen Blick‘, kam es von allen Seiten.
Der Weiße protestierte aufgebracht, er würde in Afrika nie gegen Blechbüchsen treten. Niemand glaubte ihm. Er schien aber erleichtert zu sein. Froh darüber, daß ihm jemand half. Da zog der alte Herr einen seiner eigenen Schuhe aus und zeigte ihn herum. Dann sagte er so laut, daß alle es hören konnten: ‚Ich habe einen anderen Vorschlag. Man kann da, wo die Hacke sitzt, das Leder herunter treten, so wie ich das gemacht habe. Guckt mal!‘ Wieder zeigte er den Schuh herum, sie waren hinten an den Hacken nach innen geklappt, wie Pantoffeln. ‚Damit kann auch ein weißer Bwana in Afrika herum laufen!‘
Wieder Stimmengewirr überall im Bus: ‚Ja, das geht, das ist ein kluger Vorschlag, darauf kann der weiße Bwana eingehen, das ist gut, das ist die beste Lösung‘, und so weiter.
Alle guckten jetzt nur noch auf den Schuh mit dem herunter geklappten Teil an der Hacke und auf den Weißen, der noch gewaltiger schwitzte und ganz rot war im Gesicht. Was würde er sagen?“
„Also, was sagte der weiße Mann denn?“, fragte Mama.
„Der weiße Bwana stand plötzlich auf, stampfte mit seinen tollen Schuhen auf den Boden, und rief laut und trotzig durch den ganzen Bus:
‚Ich - behalte - meine - Schuhe! Verdammt noch mal!‘
Da klatschten alle begeistert, als wäre das die Lösung. ‚Er behält seine Schuhe!‘, riefen sie durcheinander. ‚Ja, er behält seine Schuhe. Richtig, der weiße Bwana behält seine Schuhe‘.
Alle schienen mit dieser Lösung zufrieden zu sein. Auch der Junge zog sich seine alten Treter wieder an, steckte sein Messer ein, und sah gar nicht enttäuscht aus. Er hatte es wenigstens versucht. Vielleicht dachte er: Beinahe hätte ich tolle Schuhe bekommen.“
„Und wie ging es weiter?“
„Da stand der alte Mann noch einmal auf. Mit einer Handbewegung forderte er Ruhe.
‚Ja, dieser Mann behält seine Schuhe‘, rief er bedächtig. ‚Und was lernen wir daraus?‘ Fragend sah er in die Runde. ‚Wir lernen daraus, daß dieser Mann ein kluger Mann ist. Weiße sind nicht dümmer als wir Afrikaner, wie manche behaupten! Ich will euch sagen, was man noch daraus lernt, denn ich sehe so viele Dummköpfe unter euch: Wer unterwegs in Afrika ist, braucht gute Schuhe. Egal, ob er gern gegen Blechbüchsen tritt oder nicht!‘
Ihr könnt euch nicht vorstellen, was da los war im Bus. Beifall brandete auf, alle nickten zustimmend und lobten den Alten für seine Klugheit. Jemand begann zu singen, und viele stimmten ein, ein Vers nach dem anderen. Das Lied fing an mit dem Satz ‚Der weiße Bwana behält seine Schuhe … Yeah, yeah, yeah!‘ Dann hielt der Bus und die meisten stiegen aus und sangen auf der Straße weiter. Auch der Weiße verließ uns. Er machte einen erleichterten Eindruck.“
Papa und alle Mitreisenden hatten eine vergnügliche halbe Stunde erlebt.
„Ja, ja, die Weißen“, sagte Mama, räumte die Teller ab und wischte mit einem Tuch über den Tisch. „Aber man sollte sie nicht so veralbern, Calvin!“
„Wieso veralbern? Wir haben dem Mann doch geholfen, seine Schuhe zu behalten!“ Papa guckte, als könnte er kein Wässerlein trüben. Aber Mama giftete ihn an:
„Ihr habt auf seine Kosten Witze gemacht! Du weißt genau, was ich meine. Kein Wunder, daß die Weißen so oft komische Sachen über uns Afrikaner erzählen. Die verstehen doch unseren Humor nicht! Schluß jetzt mit der Debatte: Ab ins Bett mit den Kindern!“


© 2011 Hermann Schulz - Erstveröffentlichung in den Musenblättern