Cumberlandsauce

von Karla Schneider
Cumberlandsauce
 
Zu spät, schon wieder zu spät! Er warf sich gegen die schwere Glastür des Windfangs, keuchend. In der Scheibe der inneren Tür sah er für einen Moment jene Erscheinung widergespiegelt, mit der er gleich vor die Teilnehmer seines neuen Kurses treten würde: einen eher kleinen Mann mit dem Gebaren eines gesträubten Sperlings, der sich bis zur letzten Sekunde an der Zankerei um ein weggeworfenes Eishörnchen beteiligt hat.
  Auf dem Estrich der Eingangshalle tauten Schneewürstchenmosaike. Wo zum Henker war Raum 38? Daß die ihn aber auch jedes Mal anderswo einquartierten! Hinter den meisten Türen wurde bereits gearbeitet. Hier polkte Musik, dazu Klacken und Ploppern wie von Zündplättchen - der Seniorenstepptanz. Ein paar Türen weiter wurde gesägt und genagelt, das mußte „Holzspielzeug“ sein, die bastelten schon seit März an ihren Weihnachtskrippen. Alle hatten sie ihre festen Domizile, die alten Gingers, die Säger, der Dichternachwuchs, der „Umgang mit Aktien“ und „Berühmte Gerichte“. Nur er nicht. Das war schon fast Schikane.   
  Bis in den zweiten Stock mußte er dieses Mal. Er hatte schon Teilnehmer erlebt, die verlangten, daß die Zeit angehängt werde, sie hätten schließlich für eine volle Stunde bezahlt. Zweiter Stock, das bedeutete noch mehr Aufenthalt, denn der zweite Stock war das Fegefeuer. War das Wasserloch des armen Tantalus inklusive trickreicher Dattelpalmen und Granatapfelbäume. Im zweiten Stock lag die saalgroße Musterküche, wo die „Berühmten Gerichte“ ihre Heimstatt hatten. Und als dieser Säle Gott und Luzifer waltete Klemens. Seit jeher und unwiderruflich.
  Während seine Eleven drinnen ablöschten, blanchierten, legierten, karamellisierten, Balsamico einträufelten, vertrat sich Klemens auf dem Korridor die Beine, rauchte eine oder zwei. Mit angeberischer Kochmütze und Pepitahose, mit schlaksigen Hüften und straff gewickelter Schürze, mit Plastron und Zigarillo.
  Man konnte kommen, wann man wollte, Klemens erweckte beständig den Eindruck des Nichtstuns im aus reinem Jux übergeworfenen Kochkostüm. Unbegreiflich, wie er bei so offen zur Schau getragenem Desinteresse dennoch einen solchen Zulauf hatte, von seinen Kochschülern angebetet wurde, bedient wurde, niemals wegen seiner permanenten Rauchpausen angeschwärzt wurde. Im Gegenteil - bei Klemens mußten regelmäßig Teilnehmer abgewiesen werden. Man sollte den Leuten wirklich mal die Augen öffnen darüber, was ihnen von Rechts wegen zustand. Nämlich die volle Aufmerksamkeit und permanente Anwesenheit ihres Kursleiters.
  Natürlich lief er Klemens in die Arme, der, umwabert von Duftorgien aus seinem Himmelsjahrmarkt, wieder mal auf dem Gang lungerte. Lümmelte, faulenzte, Zigarillo zwischen langen ruhigen Fingern. Der auf seine Anwesenheitspflicht in der Küche pfiff, selbst heute, beim letzten Kurs vor Weihnachten, wo doch - das war Tradition - das alljährlich von Klemens selbst komponierte Feiertagsmenü gekocht wurde. Das dann jeder zum entsprechenden Datum bei sich zu Hause würde nachkreieren dürfen.
  Klemens hielt ihm eins seiner langen Beine als Barriere in den Weg. „Na, wonach riecht’s? Wenn du’s rätst, darfst du dir nachher eins von den Pigeons abholen.“
  „Ich suche Raum 38“, antwortete er würdevoll, ohne auf das Scherzchen einzugehen. Aber Würde war an Klemens verschwendet. Infantile Existenzen liebten ihre infantilen Spielchen.
  „Komm schon, los! Was gibt’s bei uns als Hauptgericht?“ Klemens lockte im falschen Ton großer Brüder. Er stieß sich mit dem Hintern vom Fensterbrett ab, brüllte in den Schlitz der Schwingtür einen Befehl zum Wenden der Pigeons Royale und sah den wider Willen Stehengebliebenen lauernd an. „Was ist nun - kannst du’s raten? Oder schaffst du’s nicht?“
  Man mußte ihn einfach in seine Schranken verweisen.
So blieb er denn stehen; mochte noch mehr Zeit verstreichen, wenn Klemens sie sich nahm, stand ihm das gleiche Recht zu. Schnuppernd: „Jedenfalls riecht es nicht nur nach Täubchen, so viel ist klar“ (Dachtest du, ich weiß nicht, was P.R. heißt!) „Da ist noch irgendwas Fischiges dabei.“
  „Ach ja . . .?“ So ermuntern Auguren andere Auguren zum berühmten Feixen der Eingeweihten.
  Er riskierte es, stürzte sich ins kalte Wasser: „Hummersuppe nach Pompadour Art? Oder Hecht a la Louis Quinze?“
  „Falsch geraten, Seezunge ä la Duglère. Aber immerhin“, und Klemens grinste anerkennend, „besser hätte ich es auch nicht herausriechen können. Sollst dein Täubchen kriegen.“
  Er begnügte sich damit, die Mundwinkel schief zu ziehen. Klemens sollte merken, daß er sich nicht von ihm begönnern ließ. Nicht er. „Also dann - ich muß nach Raum 38.“
  „Und was soll dort Großartiges stattfinden?“ Der Koch drückte seinen Zigarillo in einem Blumentopf aus, einem ohne Pflanze, sandgefüllt und mit seinem Namenszug, Abschiedsgeschenk früherer Kursteilnehmer.
  „Des Festes Segen und des Festes Fluch.“ Im selben Augen- blick bereute er die Preisgabe seines Kursthemas. Klemens äußerte sich nicht, aber sein Blick war eitel Herablassung und Armes-Schwein-Bedauern. Er deutete mit dem Daumen über die Schulter, um die Ecke des Korridors weisend. „Bleib gelassen. Die warten. Stehen als Häuflein vor der Tür und können nicht rein in deine gute Stube. Reden auch nicht miteinander. Nun ja, das gibt sich, leider Gottes. Ehrlich, manchmal möchte ich denen eine halbe Zitrone ins Maul stopfen, Modell Schweinskopf.“
  Vier Leute standen vor Raum 38. Zwei Männer, zwei Frauen. Kleiner Kreis; das Thema war wohl zu intim.
  „Hallo, seid ihr schon versammelt, das ist ja prima . . .“
Mit der einen Hand seinen Schal abwickelnd, schloß er Raum 38 auf, regte an, die Stühle zum Kreis zu rücken und schob immer wieder lockernde Rückfragen ein: „Oder? Was meint ihr? Ist doch gemütlicher so, nicht? Machen wir eigentlich immer.“ Und Du-Sagen sowieso, das absorbiere die Befangenheit.
  Er schnallte seine Armbanduhr ab und legte sie auf einen in günstiger Sichtweite stehenden Tisch. In einem seiner früheren Kurse, bei den Frischgeschiedenen, hatte sich einmal jemand beschwert, daß er zu oft und vor allem zu auffällig danach schaue. Das sei beleidigend. Er mußte ihm Recht geben, die Kursteilnehmer hatten Anspruch darauf, daß so etwas diskret geschah.
  Dann bat er noch um die Vornamen und begann sein literarisches Präludium abzuspulen; was Kurt Goetz und was Gottfried Keller sowie der erzgebirgische Volksmund zum Thema zu sagen hatten und wie man bei den alten Germanen, als noch keiner was vom frommen Sinn des Festes ahnte, zum nämlichen Zeitpunkt mit ganz ähnlichem Pomp und Völlerei die Wintersonnenwende feierte. „Ein kluger Schachzug der Mutter Kirche, den Leuten ihren altgewohnten Termin zu lassen, jajaja, muß man ihr zugestehen.“
  Bißchen lachen, das hatten sie immer gerne. Weiterredend musterte er seine an Fluch und Segen des Festes Interessieten, wie sie da auf den Stühlen saßen, hockten oder hingen, geduldig darauf wartend, bis er mit der Bildungsnummer fertig wäre und sie endlich beginnen konnten mit dem Brust aufreißen. Deswegen waren sie schließlich hier.
  Dieses Mal war es kinderleicht, ihnen jene geheimen Namen aufzustempeln, die sie nie erfuhren. Er war ziemlich gut in solchen intuitiven Vorurteilen, selten, daß er einen Namen später revidieren mußte.
  Rumpelstilzchen bemächtigte sich als Erster der Bekennerfreiheit, zischend wie ein Dampfkessel, rot angelaufen, nach wenigen Minuten schon an jenem Siedepunkt, von dem es zum hysterischen Anfall nur mehr ein Schritt ist. Er begann mit dem Segen, den er in jeglicher Reihe von Feiertagen schon immer zu sehen gewillt war, und wie er nie eine Mühe gescheut habe, für seine Gefährtin („ein gutes Stück jünger als ich, ihr müßt wissen, ich hatte ihr seinerzeit unter die Arme gegriffen, damit sie studieren konnte, selbstverständlich habe ich ihr auch nach unserer Heirat nie den kleinsten Stein in den Weg gelegt, als sie so versessen war aufs Karrieremachen“), also für seine Gefährtin und sich Urlaubsquartiere zu buchen.
  „Nur wir zwei, endlich mal ganz für uns, kein Weihnachtsstress mit Baumputzen und Vorratsbeschaffung. Pferdeschlittenfahrten in Südtirol oder Pulverschnee und Sonne in Kärnten, sie durfte wählen. Aber ob ihr es glaubt oder nicht, sie hatte nie Freude daran, ihre Reaktionen waren lahm und höflich, nicht der Anflug einer Begeisterung oder gar Dankbarkeitsliebe. Also blieben wir halt zu Hause. Aber was tut sie dort? In ihrer Funktion als Fachbereichsleiterin, als (hier prononcierte er, bräsig, voller Bitternis) Frau Professor, lädt sie jedes Jahr ausgerechnet zu dieser Zeit Kollegen ein, fremde Wissenschaftler, und zwar aus Ländern, die ein Christfest wie bei uns nicht feiern, Japaner oder Inder. Diese Kerle bleiben dann während der Feiertage unterhaltungsmäßig an ihr, das heißt an uns beiden hängen. Our castle is their castle! Sie werden ausgeführt und betreut und keine Stunde allein gelassen. Mir wird die Beteiligung freigestellt, aber ich bitte euch - welcher normale Mensch will schon die Weihnachtsfeiertage eine Tour durch die deutschen Kaiserpfalzen machen? Die Alternative ist, allein zu Hause herumhängen, während sie die Geisha mimt für Mister Harunobo und Mister Kapoor und Mister Karthahadimadja!“
  Es kreischte, das Rumpelstilzchen, es hüpfte im Sitzen, wie von einer bockenden Rodeomaschine in die Höhe geworfen. „Darf man mal fragen, was ist denn dein Beruf?“ erkundigte sich die Böse Königin. Mit maliziöser Betonung auf „dein“. Die Auskunft bestätigte seine geheime Diagnose. Rumpelstilzchen entpuppte sich in der Tat als Herr mediokrer Schätze. Er war eine Art Wurstbudenkönig.
  Der Triumph, wenn die Tatsachen seinen Aufklebern Recht gaben, loderte längst nicht mehr. Er wußte selbst zu gut, daß er ein begnadeter Menschenkenner war. Er war die vor die Porcos geworfene Margarita, ja und nochmals ja!
  „Verlange ich denn zuviel?“ kreischte Rumpelstilzchen. „Ich will an den verdammten Feiertagen die Beachtung, die ich sonst das ganze Jahr vermisse, ich will mit ihr am Tisch sitzen und Gänsebraten essen, ich will, daß wir unsere Geschenke auspacken, abwechselnd, damit man die Wirkung mitkriegt, ich will dem Anlaß entsprechende Musik, das heißt traditionelle, und ich will das schöne Schweigen beim Verdauungsspaziergang, von mir aus gerne Hand in Hand . . .“
  Er brach ab, von dem Beschworenen zu sehr übermannt.
Wieso hat er sich ausgerechnet auf diese Frisur versteift, dachte der ihn Fixierende (mit dem Hellwach-Blick, der konzentriertes Zuhören vorgab), auf diesen extrem kurzen Ponyschnitt? Wenn es wenigstens klassischer Römer-Pony wäre, ausgefranst und bis an die Brauen reichend, aber dieser gerade mal fingerbreite Streifen, wie mit dem Lineal gezogen - hatte der das von einem Karl-Kraus-Foto abgeschaut? Oder war er gar Mitglied in einem Rainer-Kunze-Fan-Club?
   „Wir bleiben immer zu Hause“, schaltete sich die Böse Königin ein und besiegelte mit diesem „wir“, daß sie Rumpelstilzchens Zeit als abgelaufen betrachtete. „Während der Sommerferien ist es mir bisher immer geglückt, Carina in irgendwelche ausländischen Pfadfindercamps zu verfrachten oder sie in der Familie einer Freundin aus dem Internat aufgehoben zu wissen, egal was es kostet. Hauptsache, sie kommt mir nicht unter die Augen, beziehungsweise ihrem Vater. Weihnachten hingegen arbeitet die Tradition leider gegen mich.“
   „Sprichst du von deiner Tochter?“ Schneewittchen beugte sich interessiert vor. (Mitte zwanzig, verhärmt, das Haar lang und glatt hängend, hübsch auf eine etwas blutarme und schmuddlige Art. Ihr weißes gehäkeltes Krabbelkindermützchen hatte sie auch im Zimmer aufbehalten.)
   „Meiner Stieftochter. Das Blag aus Egons erster Ehe.“
Die Böse Königin starrte auf einen unsichtbaren Punkt und begann zu reden, immer schneller, fast war es ein Schnattern. Was an ihr war es nur, sann der Unbeteiligte, das einen instinktiv an Doris Day erinnerte? Das übertrieben Adrette, dieses Pfundskerlige, Chefige . .. aber es war auch noch was ganz simpel Physisches. ja doch, klar doch: der steile Nacken! Doris Day hatte auch immer so eine unsichtbare Schleudertrauma-Manschette um den Hals getragen.
   Sie dächte in letzter Zeit, bekannte die Böse Königin, immer öfter daran, das kleine Miststück loszuwerden, dieses ausgekochte, laszive Luder, dieses… äh…
   „Macht sich einen Jux daraus, Kuscheleien mit Egon herbeizuführen. Sie braucht sich bloß auf seinen Schoß zu flegeln, Hosendekolleté bis unterhalb der Schamhaargrenze, schon ver- spricht er ihr das Blaue vom Himmel. Ihr solltet die Namen hören, die sie füreinander haben! Nein, ich will sie hier nicht wiederholen! Und wenn sie dann noch ihre Superstarnummer vormacht, soll heißen, wenn sie ihm vorsingt, mit dieser dünnen, belegten Schulmädchenstimme, nicht die leiseste Spur von Klang oder gar Timbre…“
   Bisher, sagte die Böse Königin und zerrte ein Stofftaschentuch aus der Hosentasche, bisher habe sie sich nur bemüht, dem Balg pfundweise weißmehlige, schmalzgebackene, schweine- fleischerne, erdnußbuttrige, vor Zuckergehalt strotzende Kulinarien der amerikanischen Küche ins Haus liefern zu lassen. „Damit sie fett wird und Pickel bekommt, wie sich das in der Pubertät gehört. Aber irgendwann werde ich auf dem Titelblatt einer gewissen Zeitung zu sehen sein, Überschrift: `Rattengift im Zimteis - Stieftochter (15 ½) starb beim letzten Gang, während am Christbaum die Lichter noch brannten´. Merkt euch schon mal meinen Namen.“ Er lautete Regina, das hatte sie vorhin verraten; mehr wollte im Moment niemand wissen.
   Noch achtzehn Minuten, sofern keiner die Verspätung einklagte. Dezent nahm er die Uhr vom Tisch, eine Geste, die indes niemand beanstandete, zu erschüttert schienen sie über das Bekenntnis der Bösen Königin. Ob die anderen drüben schon ihre Seezunge Duglère gegessen hatten? Die Kursgebühren waren astronomisch, der Zutaten wegen, doch hier war er einmal voll und ganz auf Klemens’ Seite: Von nichts kam nichts.
   Als er sich wieder den Seinen zuwandte, sprach grade Tölpelhans und strich sich beim Reden fortwährend mit den Fingerkuppen über die Bartstoppeln, daß es nur so knisterte. Das tat er übrigens auch, wenn er schwieg. Schon pathologisch, der reinste Sukkulentenkoser. Waren die nicht schon längst wieder passé, die unrasierten Wegelagererfressen? Und worüber zum Henker quatschte der Knabe? Es empfahl sich Miene Nummer drei: fasziniert und gebannt, Brauen hochgezogen. Das suggerierte Anteilnahme, mußte aber sparsam dosiert werden, einem Quentchen Sambal vergleichbar.
   „…die ganz spezifische… äh, Sehnsuchtsfigur, sag ich mal, der viele von Kind an nachträumen. Ich denke an Michael Jackson und Peter Pan, oder die Katholiken und ihre Mutter Maria. Ich nun habe mein Herz von klein auf an das Christkind gehängt. Versteht mich recht - ich meine hier nicht das Kind in der Krippe, keinen Säugling, ich bin nicht pervers. Nein, ich meine... äh, ihr kennt vielleicht diese Vorführungen, die es Heiligabend in den meisten Kirchen gibt?“
   Allgemeines Nicken. „Also, bei uns in Sankt Medardus war immer großer Bahnhof, drei Durchgänge, um drei der erste, dann halb fünf und der letzte um sechs. Die Sakristei als Garderobe, die Frau des Kantors als Inspizient: `Josef raus, Arm um Maria, Maria - hier dein Kind, also ihr zählt in Gedanken mit: dreimal rund um Altar und Kanzel, so lange, bis das Geigenquartett auf der Empore fertig ist!´ Das sollte die Flucht nach Ägypten darstellen, nur mal so als Beispiel. Ich persönlich hab es nie bis zum Josef geschafft, ich war mehrere Jahre bei den Hirten, danach einmal einer der Gold-Myrrhe-und-Weihrauch-Schlepper in der Gruppe der Heiligen Drei Könige und zuletzt zweimal der Herold, der als Allererster auftritt. Dann zogen wir leider in eine andere Stadt. Also, bei diesem Spektakel nun trat stets auch eine Figur auf, über die das Lukasevangelium nicht das Geringste mitteilt. Es war immer eine weibliche Gestalt von reiferem Alter, also um die vierzehn, fünfzehn. Unser Pfarrer hatte es mal so erklärt, daß auch in den alten Weihnachtsspielen ganz früher Christkind und Jesusknabe stets als zwei verschiedene Personen aufgetreten seien.“
   Dieses weiß gewandete Fräulein mit dem Sternenkranz, so unbescholten und mild und lieb lächelnd, aus der Konfirmandenklasse zumeist, werde er seitdem nicht mehr los. Er suche es, dieses sein spezielles Christkind, seit seinem zehnten Lebensjahr.
   „Den Typ natürlich. Nicht etwa Uschi Kleeschulte oder später Gesa Tormöhlen, ich glaube, Ina Schlittich war es auch mal. Nein, allein den Typ!“
   Zehn Minuten noch.
Vier Gesichter wandten sich ihm zu. Er war der Kursleiter. Er hatte zu reden, wenn sie Wert darauf legten. So prasselte er denn herunter, was es darüber zu bemerken gab; die würden es ja sowieso wieder vergessen.
   „Geht zurück auf Berchta oder Bertha, die Strahlende, Begleiterin von Wuotan alias Wotan, stehender Beiname >hruodperath<, woraus sich dann das populäre Rupprecht herausgeschliffen hat. Das Pärchen hatte, im 19. jahrhundert zumal, die Wunschzettel-Anlaufstelle unter sich, sowie Gewähren oder Nichtgewähren zu verantworten. Dein Christkind ist also nichts anderes als ein ins Krippenspiel hineingeschmuggeltes heidnisches Rudiment.“ Und so weiter und so weiter, solche Stichworte konnten ein Segen sein, ließen sie einen doch dann unangefochten labern. So, aus, Schluß.
   „Leider, ihr Lieben, müssen wir die Sitzung für heute abbrechen. Die Stühle bitte wieder an den Tisch zurückstellen. Nächste Woche sehen wir uns dann noch einmal, vorm Fest. Da kommst du gleich als Erste dran“ - an die Adresse der jungen Verhärmten mit dem DJ-Ötzi-Mützchen. „Kannst du uns schnell mit einem Satz sagen, in welcher Hinsicht du das Fest als Segen oder Fluch empfindest? Etwa“ - vor Aufgeräumtheit, es wieder mal hinter sich zu haben, wurde er neckisch - „auch Probleme mit dem Christkind?“
   „Ich bin das Christkind.“
„So? Ach was. Interessanter Aspekt. Also, mmjää... ich finde, daß das ein ausgesprochen starker Abend war. Große Entleerungen etcetera. Oder? Meint ihr nicht auch?“
   Während die Vier sich auf dem Gang zusammenrotteten und beschlossen, den Abend noch auf privater Basis fortzu- setzen - sofern man nicht unbedingt auf deutsche Küche aus war, konnte man in bequemer Nähe durchaus Satt werden -, schlich er, den Schlüssel von Raum 38 in der Hand, der noch immer erleuchteten, noch immer Duft verströmenden, gewissermaßen postkoitalen Küche zu. Er preßte das Ohr an die Schwingtür und wagte dann, sie vorsichtig aufzustoßen.
   Ein gutes Dutzend Leute in verschiedensten Schürzen war dabei, Kasserollen auszukratzen, Teller und Töpfe und Schüsseln in Spülmaschinen einzuschichten und Speisereste in Tuppergefäßen zu verschließen, um sie mit heimzunehmen. Von Klemens keine Spur. Es war ihm zuzutrauen, daß er einfach seine Eleven beauftragte, den Schlüssel der Küche in der Pförtnerloge abzuliefern. Schöner Kursleiter, ts!
   Er straffte sich wie unter einem anfeuernden Peitschenschmitz, wurde aufrecht und huldvoll und autoritär. Wurde zum Wiedergänger Vatels (ob die hier überhaupt je von dem gehört hatten?), erscheinend an Orten, wo es Not tat.
   „Hat man mit Ihnen jemals die Herstellung echter Cumberlandsauce durchgenommen? Nein?! Unglaublich! Dabei gehört das zur Grundausrüstung eines jeden Kochkünstlers. Passen Sie auf…“
   Leichtfüßig, behende ging er an einen der beiden gewaltigen Eisschränke. Öffnete ihn. Suchte kurz und leerte dann einen Rest Johannisbeergelee in eine Schüssel, die er aus dem Fundus des Unbenutzten herausgriff, ebenso einen Schlagbesen.
   „Dazu einen Eßlöffel scharfen Senf“ (ein abermaliger Griff in den Kühlschrank). „Ein paar Tropfen Olivenöl. Ein kleiner Schuß Rotwein. Etwas frischer Zitronensaft… Eine Prise Salz, eine Prise Zucker. Und als letztes eine Apfelsine.“
   Vor den Augen von Kochlehrlingen aller Altersstufen holte er eine riesige Navel-Orange aus dem Obstkorb. Er schälte sie und preßte sie aus und machte sich an die mühselige Arbeit, auch das feinste Partikelchen anhaftenden weißen pelzigen Belags von der Rinde zu schaben. Zuletzt schnitt er die so gesäuberte Schale in winzige Schnitzel und rührte auch sie unter das Johannisbeer-Senf-Saft-Gemisch.
   „Die Cumberlandsauce“, dozierte er mit einem Lächeln voller Bonhomie, während er die Schüssel reihum reichte, damit alle eine Kostprobe nähmen, „die Cumberlandsauce verdankt übrigens ihren Namen Prinz August von Cumberland, dem dritten Sohn König Georgs II. von England. Sein einziger Sieg in einer fast vierzigjährigen glücklosen Heerführerzeit war der bei Culloden über den schottischen Kronprätendenten Bonny Prince Charlie. Allerdings schändete Cumberland diesen Sieg durch seine Grausamkeiten gegen die Anhänger des Prinzen. Daher wohl die an geronnenes Blut erinnernde Farbe und Konsistenz der Sauce, die gewöhnlich zu Geflügel und Schweinebraten gereicht wird. Will man sie als Wildschweinbeilage verwenden, nimmt man nach Geschmack noch Wacholderbeeren dazu.“
   „Erzählen Sie diesen Schwachsinn Ihren Neurotikern, aber gefälligst nicht meinen Kursteilnehmern, Verstanden?“ Niemand hatte ihn eintreten hören: Klemens, jetzt in Zivil, seine Berufskleidung in einer Sporttasche bei sich tragend. „Was zum Henker haben Sie überhaupt hier verloren?“
   „Warum haben wir eine so weltberühmte Sauce eigentlich noch nie durchgenommen?“ begehrte einer der Kochschüler zu wissen, und zwei Frauen sekundierten: „Ja, eben!“     
   Klemens stieß geringschätzig Luft zwischen den Lippen aus, winkte mit der langen eleganten Hand ab und bemerkte, die englische Küche sei ihm keinen ganzen Abend wert. Drei, vier Saucen, nun ja, damit hätte es sich aber auch schon. Dann entriß er dem Wiedergänger Vatels die Schüssel, kostete angewidert und spülte den rotklumpigen Rest in den Ausguß.
„Typisches Amateurgepansche! Rotwein - pah! Zitrone, pfh! In meine Cumberlandsauce gehören Portwein und Weinessig. Außerdem muß das Ganze etwa drei Minuten köcheln. Und in das Erkaltete werden gehackte kandierte Kirschen gemischt. Von alledem aber mal abgesehen ist meine Küche für Scharlatane tabu. Besonders für solche, die nicht bezahlt haben, was sie verursachen. Wenn Sie sich also bitte verabschieden würden…“
   Klemens persönlich hielt ihm den Türflügel auf. Plötzlich mochte ihm etwas eingefallen sein, denn er fragte halblaut über die Schulter – „He, warte mal!“ rufend -, ob man vielleicht eins der Täubchen übrig habe, mit dem Kopf auf den Hinausgewiesenen deutend, gnädig schon wieder und ganz prächtige Güte ausstrahlend, eine Verkörperung weihnachtlichen Geistes, daß Dickens sich die Hände gerieben hätte.
   Doch er traf auf verschlossene Gesichter. Falls es restliche Pigeons Royales gab, so waren sie vertuppert und längst in Privatbesitz. Klemens pfiff verlegen durch die Zähne, chchch. Konnte man nichts machen. Pech.
   Der Schlüssel von Raum 38 war bereits auf der Treppe. Der ihn umkrampft hielt, hörte das Chchch nicht mehr. Dabei war es ein Geräusch ehrlichen Bedauerns. Ganz und gar ehrlich.
 
 
© 2003  Karla Schneider