Das fröhliche Leben der Heiligen

Erzählung

von Karl Otto Mühl
Das fröhliche Leben der Heiligen
 
Mir ist eingefallen, daß unsere Zusammenkünfte nie bequem und gemütlich waren. Wenigstens stellen sie sich in der Erinnerung ernst und immer ein wenig traurig dar. Ich rede von Lüdenscheyd, den ich kennenlernte, als er zusammen mit seiner Frau als möglicher Nachmieter meine Wohnung besichtigte. Sie kamen aus der nahen Nachbarstadt.
Ich lebte allein. Das Paar klingelte an einem frostigen, grauen Sonntagmorgen und drang in meine Wohnung ein, die ich sonst an solchen Tagen allein mit meinen Gewohnheiten beherrschte.
 
Er war ein baumlanger Kerl mit knochigem Gesicht, sie eine angenehme Frau mittleren Alters. Erst wurden die üblichen Erkundigungen über meine Dreizimmerwohnung eingezogen, doch wir wechselten sehr schnell zu unseren Familien-, Berufs- und Lebensumständen. Das ging ganz leicht. So erfuhr ich, daß er Schleifmittelvertreter war und sie Stationsschwester. Unter Schleifmitteln stellte ich mir Schmirgelscheiben vor, aber zu seiner Palette gehörten noch weitere Produkte dieser Art. Das erfuhr ich später.
Ich merkte sehr schnell, daß er über niemanden und nichts etwas Unfreundliches sagte, aber daß er seine Informationen auch nicht auswählte, daß ihm ihre Wirkung auf mich vielleicht egal war. Sie waren einfach Statements, die er in den Raum hineinsprach. Er schien auch keine Geheimnisse zu kennen. Nein, reich werde man nicht als Firmenvertreter, sagte er offen. Seine Frau hörte ihm aufmerksam zu, ergänzte einige Male etwas, schien aber immer mit ihm einverstanden zu sein. Vielleicht sei die Wohnung eine Idee zu klein, ein Sohn lebe noch bei ihnen, sagte sie.
 
Die Leute nahmen die Wohnung nicht, es war alles auch im Grunde Sache des Hauseigentümers und mir gleichgültig. Ich war ja dabei, auszuziehen, aber merkwürdigerweise rief Lüdenscheyd in Abständen immer wieder bei mir an. Merkwürdig fand ich es darum, weil es ja zunächst wenig Anlaß dazu gab, aber auch darum, weil ich es ihm am wenigsten zugetraut hätte, daß er Nähe zu anderen suchte oder fände. Sehr schnell kam auch heraus, daß er fromm war, einer freien Gemeinde angehörte und dort auch predigte. Zu bekehren versuchte er mich nicht, auch sprachen wir ohnehin nie über persönliche Glaubensfragen. Wohl aber erfuhr ich mehr und mehr über sein Glaubens-Verhalten, das seinen Tageslauf bestimmte, über den Glauben, der ihn erfüllte und durch alle Ritzen seines Alltags drang. Kurzum: Er sah aus und wirkte wie ein amerikanischer Pilgervater mit großem Hut und schwarzem Gehrock.
 
Am Morgen stand er auf, blinzelte aus dem Fenster und fühlte für einen Augenblick Abwehr und Schauder gegenüber dieser unbarmherzigen Welt und seinem Leben, von dem ja sicher stand, daß es mit seiner Vernichtung enden würde.
Aber schon im nächsten Augenblick erinnerte er sich, daß Christus vor ihm stand, ihn anblickte und sprach: Siehe, ich bin bei euch alle Tage …
Der Gedanke begleitete ihn ins Badezimmer, an den Frühstückstisch und hinaus und zu seinem Auto, das ihn in die Industriewelt trug, die seiner Schleifmittel bedurfte. Ich konnte mir seine Verkaufsgespräche vorstellen: ernst, sachlich, ohne Überredungskunst, vielleicht fast auswendig gelernt von einem, der keine Ahnung hat, was seine Zuhörer von ihm denken. Ihm genügt, daß er es richtig macht und alles Notwendige sagt.
Und immer wieder erlebte er dankbar den Augenblick, wo er aus dem Firmengebäude trat und würzige Luft atmen durfte. Er sah die kahlen Bäume auf dem Höhenzug vor ihm, die Häuserwände erstrahlend in der Morgensonne, die Häuser, die Hecken; und alle breiteten die Arme aus und waren bereit, ihn aufzunehmen. Er wußte, daß sie sprachen, sie hatten ihre Sprache, ihr So-Sein sagte ja, was sie waren und was sie wollten; und sicher war, daß sie ihn mochten.. Immer würden sie seine Freunde und seine Familie sein. Er sah die ausgedehnte Landschaft, kleine, trauliche Wäldchen, Wiesen, Bäche, Gesträuch-Inseln, alles harmonisch verteilt, alles klingend wie eine Melodie. Über allem summt eine Stimme, aber die ist nicht zu hören, nicht in unserer Welt der Objekte. Auf der Heimfahrt hielt er an einem Bauernhof und freute sich, als er sah, daß die Vögel viele Hühnerfedern auf dem Boden fanden, mit denen sie ihre Nester bauten.
Immer bedankte er sich sofort bei Gott für alle diese Wohltaten. Er fuhr in die Stadt zu einer Versicherung, und wieder hatte er Grund zum Danken, als er sofort einen Parkplatz fand, den einzigen freien in einer langen, besetzten Reihe.
 
Er kaufte bei so einer Gelegenheit in einem Billiggeschäft in der Nähe eine Pinzette, die ihm fehlte. Die Kassiererin wünschte ihm einen schönen Tag. Er wandte sich um, um dies zu erwidern, da winkte sie ihm noch zu. Er überquerte den Platz, um in der Stadtbibliothek gegenüber ein bestelltes Buch abzuholen. Aber da war geschlossen, doch von innen sah ihn die Bibliothekarin, winkte ihn herein und holte das Buch herbei. „Wenn man jemand doch kennt …“ sagte sie zur Erklärung ihres Entgegenkommens.
Wieder draußen, blieb er einen Augenblick stehen und bedankte sich bei Gott für die Freundlichkeit seiner Mitmenschen.
 
Einmal rief er mich an und berichtete mir von einem Sonntags-Spaziergang mit seiner Frau, der sie über einen langen Waldweg geführt hatte: „In Laub und Gesträuch am Wegrand stand so ein einzelner, kleiner Pilz. Hilde schnitt ihn behutsam ab, steckte ihn in eine kleine Plastiktüte und dann in ihre große Handtasche - oder wie nennt man heute diese mittelgroßen Taschen? - Sie wollte ihn zuhause mit einigen Zwiebeln zusammen braten. Das Ganze hatte soviel Sorgsames, Bescheidenes und Rührendes an sich, daß ich es in Gold fassen möchte. Es hat mir regelrecht leid getan, daß ich bei den vielen Spaziergängern nicht niederknieen konnte, um mich bei Gott für meine Frau zu bedanken. Er muß sie besonders lieb haben.“
 
Ein anderes Mal berichtete er mir von einer Neuverteilung der Vertreterbezirke. Jetzt hatte er hauptsächlich ländliche Gebiete. Offensichtlich war das neue Gebiet kleiner und enthielt weniger Abnehmer. „Die denken eben, das liegt mir mehr“, sagte er gleichmütig. Die Veränderung hielt er für einen Glücksfall. Jetzt könne er sich endlich mehr der Gemeindearbeit zuwenden, sagte er. Zum Beispiel öfter Kranke besuchen.
 
Einmal lud er mich ein, mir seine Kirche anzusehen, die nach einem hiesigen Reformator benannt war. Es war ein Herbstnachmittag. Er erwartete mich am Eingang und führte mich hinein. Diesmal war kein Jazz-Saxofonist da, den hatte er nämlich auch einmal als Gast, auch kein Schriftsteller, kein Philosoph. Solche Menschen lud er manchmal ein, und sie kamen auch und wurden von seiner Gemeinde aufmerksam angehört. Aber bei diesem Besuch gab es nichts, nichts außer diesem graublauen Nachmittag und den gedämpften Verkehrslärm um die Kirche herum. Wir beide standen allein in dem riesigen Kirchenraum. Ich hatte schon gelernt, daß es die sprachlosen Augenblicke sind, an die ich mich oft erinnere und ich ahnte, daß es in diesem Augenblick eine Nähe gab, der ich nicht gerecht wurde und zu der ich keine Worte fand. Ich erwähnte nur, daß ich mich gewundert hätte, weil er längere Zeit nicht angerufen hätte.
Das stimme, sagte er. „Die Luft, wissen Sie, die Luft. Ich war nicht ganz in Ordnung.“
 
Plötzlich sagte er: „Vor zwei Wochen bin ich operiert worden. Jetzt habe ich so einen Plastikschlauch von der Leiste zum Herzen.“ Und nun sprach er von nichts anderem mehr als von der großen Kunstfertigkeit der Ärzte, der Behutsamkeit der Krankenschwestern, der rührenden Anhänglichkeit von Familie und Freunden, allen voraus die Liebe seiner wunderbaren Frau. Da gebe es ununterbrochen Grund sich zu bedanken. Er sei eben ein Glückspilz. Wir beide standen allein in dem riesigen Kirchenraum,
 
Einige Monate später habe ich ihn im Krankenhaus besucht. Als ich in sein Zimmer trat, war er gerade erwacht. Eine Schwester stellte ein Tablett mit Kaffee auf sein Nachttischchen.
„Ich bin noch ganz benommen“, sagte er. „Gerade habe ich gedacht, der Arzt käme herein und sagte „Sie haben gar nichts. Es ist alles in Ordnung.“
 
„So wird es auch kommen“, sagte ich.
 
 
 
© 2012 Karl Otto Mühl – Erstveröffentlichung in den Musenblättern
Redaktion: Frank Becker