Ich suche eine Lichtenberg-Stelle
Anton Kuh besucht die Nationalbibliothek Wien
Georg Christoph Lichtenberg, Mathematiker, Satiriker, Aphoristiker, merkwürdige, huzelmännische Kreuzung aus Lawrence Sterne und Arthur Schopenhauer, gehört zum geistigen Grundbestand der Deutschen, keiner wird verfehlen, seinen Namen als heilige Lippenzier zu gebrauchen und ihn gegebenenfalls gegen das gesamte Schrifttum der Gegenwart auszuspielen. Infolgedessen hatte ihn, als ich mit eine Stelle aus seinen Londoner Briefen abschreiben wollte, kein Wiener Buchhändler vorrätig. Aber - fiel mir da ein - wozu gibt es denn die große Hof-, jetzt Nationalbibliothek? Ich will mit ihr aus diesem Anlasse Bekanntschaft machen! Ein Nebentrakt der alten Hofburg ist ihre Herberge. Welcher wundervolle graue Barockbau auf dem stillen Josephsplatzl Wie vorzeitnobel dieses symmetrische Viereck mit den reingefegten Pflasterbuckeln! Kühler Feudalhauch weht aus dem Vorraum, aus Zimt und Lack gemengt, der gewisse Duft parkettierter Säle, den das Belvedere, das Burgtheater und die vornehmen Regierungsbauten ausstrahlen.
Ein alter Diener im Amtskleid, Typus: Logenschließer (er hat Erzherzogen aus dem Mantel geholfen), nimmt mir die Garderobe ab und verabreicht mir dagegen eine numerierte Blechmarke; ohne die gibt's oben keinen Sitzplatz! „Wieviel bin ich schuldig?“ Oh, nichts natürlich! Der Staat legt auf den Bildungshunger keine Steuer. Und dann ist man ja gewissermaßen noch immer beim Kaiser zu Gast… Die breite weiße Fürstentreppe hinan! An jeder Biegung ein schwarzer Laternenaufsatz. Deckengemälde. Vorraum zwei. Diener huschen auf leisesten Sohlen, das Parkett knarrt störungsängstlich, diskret. Ich blättere in faustdicken Katalogen. Nichts zu finden! Ja, sagt man, sie sind ja nur für die Handbibliothek. Ich möge also Titel, Verlagsart und Autor des gewünschten Werkes auf einen Zettel schreiben. jedoch bei diesen verräumten Büchern heißt es natürlich, sich ein, zwei Tage gedulden. Außer der Herr Direktor...
Der Herr Direktor - sehr gut, wozu bin ich selber Mann der Feder? Ich lasse mich bei ihm anmelden. Als ich des munteren, etwa fünfunddreißigjährigen und poetisch frisierten Herrn ansichtig werde, geht mir rasch ein Stück österreichischer Literaturgeschichte durch den Kopf. Direktor der Hofbibliothek - hat nicht Franz Grillparzer beinah sein Lebtag lang in Ministerialvorzimmern herumgestanden, um diese Stelle zu bekommen? War er wegen dieses äußersten, tiefst erflehten Lebensziels, das ihm endlich Schaffensruh´ vergönnen sollte, nicht zweimal bei Sr. Majestät Franz I. in Audienz und beide Male vergeblich, da er durch sein heidnisches, romfeindliches Gedicht über die Ruinen des Campo vacino und hernach durch seine Ode auf die Genesung des Thronfolgers (Ferdinand des Gütigen) den höfischen Takt verletzt hatte?
Der blonde helläugige Mann hier war in der Bewerbung glücklicher. O bitte, natürlich, sofort, sagt er, als ich ihm mein Ansuchen vortrage, und steckt mir zugleich einen Widmungsband seiner soeben erschienenen Novellen in die Tasche. Ich suche mit ihm gemeinsam in großen Verzeichnisbüchern und schreibe die Daten auf ein kleines vorgedrucktes Papier. „Kann ich auf das Buch warten?“ Nein, leider, das geht nicht. Nämlich: in den Kellermagazinen, die sich bis zur Bräunerstraße hinüber erstrecken, sind nahezu zwei Millionen Bücher untergebracht, sage und schreibe: Millionen zwei- ich müßte doch erst den Zettel einem Diener übergeben und am nächsten Tage wiederkommen. Zwei Millionen, ich kann es noch immer nicht fassen. Mir fallt ein, daß ich schon in der Jugend davon hörte, mit welchen fabelhaften Werten die innere Stadt unterkellert sei, auf welchem dreifach symbolischen Weihegrund sie ruhe: Die Katakomben von St. Stephan mit Urvätergräbern und Heiligengebeinen, die Weinkellereien des Rathauskellers und die Bücher der Hof- und Universitätsbibliothek unterminieren die ganze Stadt. Der Punkt, wo Wein, Buch und Glaube in einem Kreuzgang zusammenstoßen, dürfte der Schwerpunkt Wiens sein… Ein wunderbares Oberweltgefühl!
Am nächsten Tag erscheine ich wieder. „Bitte?“ „Lichtenbergs ausgewählte Werke. Der Direktor hat persönlich den Zettel abgegeben.“ Der Diener sucht unter den Papierschnitzeln, und ein zweiter hilft ihm, ein dritter steckt den Kopf über beide. Dann, sich an den nächsten Petenten wendend und ohne mich anzusehen, spricht der erste: „Nix is. Der Zettel is in Verlor gangen.“ Kein Wort sonst. Ich steige die prachtvolle Barocktreppe hinab und beneide einen Augenblick lang Lichtenberg um seine unzugängliche Ruhestatt: hundert Klafter tief unter Wien, zwischen Gumpoldskirchner und Heiligenknochen.
Anton Kuh
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