Ein schweigsamer Bauer

von Hermann Schulz
Ein schweigsamer Bauer
 
Dies ist eine wahre Geschichte, deshalb nenne ich keine Namen. Jeder mag sie verstehen, wie er sie empfindet.
 
Der Hof des großen, hageren Bauern stand in einem Rundling von 12 Höfen im Wendland. Seine Schwiegereltern hatten das Anwesen kurz vor dem 1. Weltkrieg erworben. Vor fünfzehn Jahren hatte er hier eingeheiratet und den Hof durch Fleiß, Klugheit, Sparsamkeit und seiner besonnenen Art hochgebracht und Ansehen im Dorf erworben. In den Sommermonaten kam häufig die verwitwete Schwägerin mit vier Kindern aus dem Rheinland zur Sommerfrische. Die Gäste wohnten in der oberen Etage. Da lebten sie ein bißchen beengt, aber in der Kriegszeit war man froh, überhaupt irgendwo Ferien machen zu können.Die älteste Tochter der frommen Witwe, deren Mann, ein Geistlicher, kurz nach der Geburt des jüngsten Kindes starb, war elf Jahre alt. Sie hatte als einziges der Kinder noch Erinnerungen an ihren zärtlichen Vater, der von diesem Hof im Rundling stammte.
 
Als das Mädchen von dem Tod des Vaters erfuhr, versteckte sie sich für viele Stunden in einem Schrank.
 
Die Witwe war sehr streng mit ihren Kindern und immer besorgt, daß sie auf dem Dorf schlechten Einflüssen ausgesetzt sein könnten.
 
Eines Nachts erwachte der Bauer, eine ihm unbekannte Unruhe hatte ihn erfasst. Seine Frau schlief an seiner Seite, er weckte sie nicht, um sie nicht zu beunruhigen. Er stand auf, steckte seine Füße in die Pantoffeln, und ging leise durch alle Räume der Wohnung. Er brauchte kein Licht, draußen schien der Mond. Er prüfte, ob alle Türen abgeschlossen waren, sah in den Kuhstall. Eine Kuh stellte sich auf, sah ihn an und gab ein leichtes Brummen von sich.
 
Seine Unruhe wollte nicht weichen. Es stimmt in diesem Haus etwas nicht, dachte er, und ging in die Wohnräume zurück, überlegte, ob es nicht besser sei, sich wieder schlafen zu legen. Etwas hinderte ihn daran. Er blickte einen Moment lang durch das Fenster auf den naheliegenden Wald. Ein fast voller Mond beschien die Wiese und den schon aufziehenden Morgennebel. Ich muß morgen den Zaun erneuern, fiel ihm ein.
 
Wenn ich die Treppe hinauf gehe, könnte ich unsere Gäste im Schlaf stören, dachte er. Er stieg trotzdem, so leise wie möglich, die steilen Holzstufen hoch, auch im Vorraum und in den Schlafräumen der Gäste war alles ruhig. Er blieb einen Augenblick stehen und horchte in die Stille. Er öffnete die Tür, die zum Speicher führte, wo Würste und Schinken geräuchert wurden. Er hatte sogleich den besonderen Geruch in der Nase. Als er schon auf der Mitte der Treppe angekommen war, sah er einen schwachen Lichtschein unter der Tür. Leise ging er weiter, blieb vor der Tür stehen und lauschte. Er war nicht sicher, ob da nicht doch ein Geräusch gewesen war. Dann öffnete er vorsichtig.
 
Auf dem schmalen Fensterbrett brannte ein Kerzenstummel. Dann sah er das elfjährige Mädchen. Es stand im Nachthemd barfuß auf einem Stuhl. Sie sah ihn aus großen Augen an, in denen eine Trostlosigkeit stand, die er von diesem Kind nicht kannte.
 
Dann begriff er, woher seine Unruhe kam. Das Mädchen hatte über den oberen Dachbalken einen Strick geschlungen und verknotet. Neben seinem Kopf bewegte sich leicht eine Schlinge. Das Mädchen rührte sich nicht, stand regungslos wie eine Puppe. Der Bauer ging langsam bis zum Stuhl und hob das Mädchen auf den Boden. Es blieb still neben dem Mann stehen, während er den Strick löste und leise sagte: „Datt brucken wie nich!“
 
Dann nahm er das Mädchen auf seinen Arm, wie man es mit kleinen Kindern tut, löschte den Kerzenstummel und machte sich auf den Rückweg; in die oberste Etage, vorbei an der schlafenden Gastfamilie, und weiter treppabwärts. Er brachte das jetzt leise weinende Mädchen in seine Schlafkammer, bettete es neben seine Frau, die wach geworden war, und legte sich selbst in das breite Bett. Drei, vier Worte genügten, damit seine Frau Bescheid wußte. Dann begann das Kind leise zu sprechen, von den entsetzlichen Prügeln ihrer Mutter zu erzählen, wegen jeder Kleinigkeit - und weil sie den Heiland nicht genug lieben würde. Dann begannen die beiden Erwachsenen zu sprechen, um das Mädchen zu trösten und zu beruhigen. Sie redeten leise und lange, mehr als eine Stunde. Bevor sie gemeinsam einschliefen, sagte die Frau: „Wie snacken dat ohl trecht!“
 
Am nächsten Morgen nahm der Bauer seine Schwägerin zur Seite, erzählte ihr von seinem nächtlichen Erlebnis, und sagte: „Solange du in meinem Haus lebst, schlägst du deine Kinder nie wieder!“
 
Das Mädchen erzählte mir erst 60 Jahre später von der nächtlichen Stunde: „Geschlagen hat unsere Mutter danach nicht mehr so viel. Aber sie kannte schlimmere Strafen.“
 
Auch mit dem Bauern konnte ich noch darüber sprechen; er wurde 100 Jahre alt.
 
 
© 2011 Hermann Schulz – Erstveröffentlichung in den Musenblättern
 
Hermann Schulz lebt als Autor in Wuppertal. Zuletzt sind einige seiner Geschichten unter dem Titel „Der Tag an dem ich meine Schularbeiten nicht mehr gemacht habe“ im NordPark-Verlag erschienen.